Mittwoch, 27. Mai 2009

8. Der Gipfelsturm am Stiftskirchengebirge

Ich streife durch die Straßen meiner Stadt und finde mich vor einer Türe wieder. Diese Türe habe ich in den letzten zehn Jahren gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Vor allem an Samstagen. Diese Türe ist offen und es ist ein Schild darauf befestigt. Auf diesem Schild steht in unmissverständlichen Worten: "Jeden Samstag um 12.00 Uhr Turmführung !" Leerstelle, Ausrufezeichen. Normalerweise fällt mir solcherart typografischer Blödsinn immer auf, und eine dazu passende bissige Bemerkung ein. Nicht so heute. Heute ist ein besonderer Tag: Es regnet. Es ist Samstag, 11.57 Uhr! Ich habe seit fast 20 Jahren geradezu bestialische Höhenangst. Und ich gehe da jetzt rauf!
Moment mal! Was war das gerade? Nicht das mit der Uhrzeit. Ich meine den Satz danach, den mit dem "...ich gehe da jetzt rauf".

Die Stiftskirche in Neustadt hat zwei gewaltige Sandsteintürme. Der Südturm misst von der Basis bis zur Spitze 56 Meter, der Nordturm ist noch einmal 8 Meter höher. Warum haben die Türme eigentlich eine so unterschiedliche Größe? Ursprünglich waren die beiden immer mehr oder weniger baugleich gewesen, und bis zu den in etwa 38 Metern Höhe gelegenen, begehbaren Plattformen sind sie das auch heute noch. Sie wären es auch oberhalb der 38 Meter-Grenze, wenn da nicht die Türmer von Neustadt gewesen wären. Die lebten als städtische Angestellte viele Jahrhunderte lang im Dachaufbau des Südturms und wachten über die Stadt und das Umland. Ob herannahende Franzosenheere oder wütende Feuersbrunst, ihnen entging wegen ihrer exponierten Wohnsituation nichts. Doch das Leben im Dachstuhl eines Glockenturms war alles andere als komfortabel und die Bezahlung der Türmer nicht gut. Der Rat der Stadt beschloss daher im Jahr 1730, dass es notwendig sei, ein Türmerhaus zu errichten. Von der Einsicht in die Notwendigkeit bis zur Durchführung vergingen noch einmal neun Jahre, und so wurde im Jahr 1739 der Dachstuhl des Südturms abgetragen und durch ein zweigeschossiges Barockhäuschen ersetzt. So kam es zu der unterschiedlichen Höhe der Türme und die Stadt Neustadt zu dem unverwechselbaren Wahrzeichen ihrer ungleichen Zwillingstürme.

Der Raum hinter der Türe ist bereits gut gefüllt. Unter anderem fällt mir eine größere Gruppe Wanderer auf, deren Sprachmelodie mir merkwürdig vertraut erscheint. Rheinländer! Ich schließe mich ihnen an. Der Rheinländer fühlt sich auch im Exil im Rudel wohler. Außerdem werden sie von einer Dame begleitet, die ich spontan sympathisch finde. Ein weiteres Schild springt mir ins Auge. Dieses ermahnt den Besucher im Namen des Presbyteriums, nicht zu rauchen. Es macht ferner darauf aufmerksam, dass es beschwerlich und gefährlich ist, die Türme zu begehen. Danke! Das hab' ich jetzt gebraucht! Welche Gefahren mögen da auf mich lauern? Fledermäuse, die mich mit irrem Kichern von hinten anfallen und irgendwo herunterschubsen? Schubsende Fledermäuse im Glockenturm - das kennt man ja spätestens seit dem Cartoon von MGM. Oder sind es gar morsche Holzstufen, die genau in dem Augenblick ihr mehr als fünfhundertjähriges Bestehen beenden, da ich darüber laufe? Ein Filmklassiker, geradezu ein filmischer Archetypus. Bekannt aus dutzenden von Abenteuer- und Gruselfilmen. Steintreppen, die vom Blitz getroffen zusammenbrechen? So etwas hab' ich im "Highlander" schon gesehen. Da hat allerdings Kurgan der Kirgise vorher schon mit seinem Schwert die Architektur mürbe geprügelt. Das kann man hier vermutlich ausschließen. Wahnsinnige, mordlustige Kirgisen habe ich heute noch keine gesehen, schon gar nicht solche mit Zweihänderschwertern. Gewitter haben wir auch keins. Möglicherweise hüpft gar ein buckliger Glöckner auf den Wasserspeiern herum und schmeißt mit Sandsteinquadern, um für seine geliebte Esmeralda Asyl zu erzwingen? Vielleicht besteht auch die Möglichkeit einer Ohnmacht, die mich im Moment größter Gefahr hinterhältig übermannt und stürzen lässt? Ach was soll's. Daran, dass der Weg beschwerlich ist, habe ich ohnehin nie gezweifelt, und die Gefahren können so schlimm nicht sein, sonst hätte die Stadt die Turmführungen längst untersagt. Da muss ich jetzt wohl durch!

Beschwerlich war das Leben der Türmer in früheren Zeiten. Die mussten jeden Tropfen Wasser vom Marktbrunnen holen und nach oben schleppen. Erst 1900 wurde eine Wasserleitung gelegt, aber wegen des geringen Wasserdrucks in Neustadt nur bis ins Erdgeschoß. Für das vierte Turmgeschoß reichte der Wasserdruck dann 1925, zum ersten Mal gab es jetzt im Turm eine Waschstelle und eine Toilette. Bis dahin mussten die Abwässer ebenfalls mit Eimern heruntergebracht werden. Das hat natürlich nicht jeder Türmer durchgehalten. Man stelle sich vor: Im Winter jeden Tag mehrmals einen Eimer Fäkalien all die Stufen nach unten bringen. Die haben ja da oben mit Frau und Kindern gewohnt. Und das in einer Zeit, als ein Paar mit drei Kinder noch nicht als kinderreiche Familie galt. Da konnte so mancher Türmer der Versuchung nicht widerstehen, die braune Brühe über das Kirchendach zu entsorgen. Das fand das Presbyterium natürlich weniger gut. Oder Brennholz. Schleppen Sie einmal im Winter Brennholz auf einen Kirchturm. Dann wissen Sie aber vor lauter Schwitzen nicht mehr, ob sie den brennenden Ofen überhaupt noch brauchen. Selbst wenn Ihre vielköpfige Kinderschar vor Kälte schreit!

Die Turmführerin erklärt uns mit leuchtenden Augen die verschiedenen touristisch bedeutsamen Superlative der Stiftskirche, während wir mit beunruhigendem Tempo immer weiter nach oben steigen. An der Basis zwei Meter dicke Wände, die Betonwendeltreppe aus dem Jahr 1928, die eine einheimische Firma mit einem damals ganz neuen Verfahren hergestellt hat, die Kaiserglocke, größte Gußstahlglocke der Welt, schwingt in einem tiefen "es" und ist mit 14 Tonnen die zweitschwerste Glocke Deutschlands.... und, und, und. Viel spannender finde ich die vielen Anekdoten über die Türmer, mit der sie ihre Erklärungen würzt. Während ich diesen Geschichten lausche, nehme ich meine Mit-Turmbesteiger etwas genauer unter die Lupe. Habe ich da unter der Regenjacke nicht eben einen länglichen Gegenstand metallisch aufblitzen sehen? Oder der Mann da im Halbschatten: geht der nur etwas gebeugt, oder hat der wirklich einen Buckel? Was war das für ein Schatten, der da soeben durch das Gebälk gehuscht ist. Und sollten wir die alte Holztreppe nicht lieber nach und nach benutzen, statt alle zusammen? Mit ungutem Gefühl im Bauch erklimme ich die letzten Stufen.

Die Besoldung der Turmwächter war schlecht, ihre Pflichten waren vielfältig und anstrengend. So mussten die Turmuhren aufgezogen, Signale für das Öffnen und Schließen von Stadttoren und Weinbergen gegeben und Feuerwehren zum Brandherd gelotst werden. Um ihre stete Wachsamkeit zu kontrollieren wurde von ihnen verlangt, dass sie nachts den Stundenschlag der Glocke durch einen Hammerschlag auf eben diese Glocke quittierten. Das bedeutete: Jede Stunde raus aus dem Bett und zwei Turmstockwerke nach unten laufen. Der Turm hat neben dem Türmerhäuschen nur vier Stockwerke, Sie können sich also vorstellen, wie hoch so ein Turmstockwerk ist und wie vielen Treppenstufen das entspricht. Dann durch den Dachstuhl der Kirche in den Nordturm, dort ein Turmstockwerk nach oben und mit dem großen Hammer einen Schlag auf die Glocke. Dann wieder den ganzen Weg zurück. An eine geordnete und gesunde Nachtruhe war da nicht zu denken. Und was ist mit...wie soll ich sagen... Familienleben? Immerhin hat es einer der Türmer auf die bemerkenswerte Kinderschar von 13 (!) Sprösslingen gebracht. Nur, um das zu verdeutlichen: das ist eine komplette Fussballmannschaft mit zwei Ersatzspielern. Oder die Besatzung eines olympischen Ruderachters mit Steuermann und Trainer und drei Bootstechnikern. Und das bei der gestörten Nachtruhe! Oder vielleicht gerade deshalb? Wie dem auch sei: Irgendwann ist einer der Türmer (vielleicht auch seine Frau) auf die Idee gekommen, ein Drahtseil aus dem Fenster der Türmerwohnung in ein Fenster des Nordturms zu spannen, von dort aus ins Glockengeschoss um es daselbst mit dem Schlagwerk der Glocke zu verbinden. Von nun an war Schluss mit der nächtlichen Rennerei, denn der Quittungsschlag konnte bequem vom Bett aus getätigt werden. Die tiefe Einkerbung im Sandstein des Fensters im Nordturm zeugt noch heute von diesem pfiffigen Turmwächter (bzw. seiner Frau). Der Lohn für die ganze Plackerei war allerdings karg, davon eine Familie, schon gar eine werdende Fußballmannschaft zu ernähren war schlechterdings unmöglich. So hatte jeder Türmer einen Nebenberuf. Der Kurfürst persönlich hatte ihnen das exklusive Recht zugebilligt, öffentlich Musik aufzuspielen. Das taten sie natürlich nicht umsonst. Wer nicht spielen konnte, durfte dieses Recht auch an andere Musikanten veräußern. So kam man über die Runden.

Inzwischen sind wir in der Türmerwohnung angekommen. Unsere Führerin erklärt uns, dass das Geländer der Plattform 1794 von französischen Revolutionstruppen demontiert und ins damals noch Französische Landau verbracht wurde. Es wird noch heute auf dem dortigen Stiftskirchenturm verwendet - eine Frechheit! Ende der 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, also rund 160 Jahre später, kam endlich jemand auf die Idee, einen Versuch zu unternehmen, die Landauer zur Rückgabe des Geländers aufzufordern. Auf die Dauer ist das ja für die Türmerfamilien kein Zustand: so ganz ohne Geländer in 38 Meter Höhe. Das ging natürlich in die Hose. Die Landauer hatten sich inzwischen so sehr an das Geländer gewöhnt, dass sie es nicht herausrücken wollten. Kann man ja auch irgendwie verstehen, denn es ist ein sehr schönes Geländer. Also musste ein neues gebaut werden. Das wurde im Jahr 1963 dann mit viel Tamtam montiert, und schützt seitdem Türmer, Türmerin, Kinder, Katzen und Besucher vor dem Herunterfallen.

Ich kann ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich der Kunstschlosserei Bäcker aus Neustadt in diesem Augenblick dafür bin. Ich stehe nämlich inzwischen hoch über dem Marktplatz auf regenfeuchten, glitschigen und vor allem schmalen Holzplanken. Ein nur 110 cm niedriges Geländer hindert mich daran, ein raumgreifendes und auch blutiges Ende auf dem Dach des Verkaufswagens der netten Fischhändlerin zu nehmen, bei der ich Samstags immer so gerne einkaufe.
Auch den Französischen Revolutionstruppen bin ich zutiefst zu Dank verpflichtet. Das entwendete Original war nämlich noch ein paar Zentimeter niedriger, als das was mich jetzt beschützt. "Vive la France! Vive la Révolution!" möchte ich am liebsten über den Marktplatz hinausschreien, aber mein Hals ist trocken und ich bekomme kein Wort heraus. Trotz des trüben, regnerisch-kühlen Wetters rinnt mir der Schweiß in Strömen. Ich kann die Kamera kaum halten, deshalb habe ich sie mir vorsorglich am Hals befestigt. Niemand wundert sich, denn ich habe im Vorfeld jedem, der es wissen wollte - auch jedem, der es nicht wissen wollte - von meiner Höhenangst erzählt. Und siehe da: ich war nicht der Einzige. Bei Weitem nicht! Ich werde vielmehr das Gefühl nicht los, dass ich mich hier in einer Art Akrophobie-Selbsthilfegruppe befinde. Ich habe die ISO-Empfindlichkeit der Kamera hochgedreht. So komme ich auf kürzere Belichtungszeiten und das Zittern fällt nicht so auf. Aber wie dem auch sei: Die Aussicht auf mein Neustadt ist spektakulär! Grandios, möchte man sagen! Sogar meine alte Wohnung in der Kunigundenstraße kann ich sehen. Die Hurra-Atome in meinem Gehirn mischen sich mit dem ganzen Panik-Adrenalin vom Aufstieg, und das macht mich ganz wuschig. Wohl besser, wenn ich jetzt wieder hineingehe. Sonst komme ich womöglich noch auf die Idee, ich könne fliegen.


In den Chroniken der Stadt liest man immer wieder davon, dass in früheren Zeiten die Turmwächter, auch Turmknechte oder Zinkenisten genannt, auf dem Turm ein loses Leben voller Ausschweifungen geführt haben sollen. Was man sich darunter vorzustellen hat, bleibt der Phantasie des Lesers überlassen. Fest steht jedoch, dass die Türmer, die ja zum größten Teil auch Musiker waren, regelmäßig ermahnt wurden, nicht spät nachts zu musizieren. Kann ich nachvollziehen. Ich höre nachts auch schon mal ganz gerne etwas lautere Musik. Irgendwann bekomme ich dafür bestimmt auch Ärger. Auch sollen einige der Turmwächter ihrer Pflicht, nachts die Glocken zu schlagen nicht immer sehr ernst genommen haben. Was denn nun? Erst sind sie zu laut, dann sind sie wieder zu leise... Und das bei der miesen Bezahlung. Außerdem sorgten noch die bereits erwähnten Fäkalien auf dem Kirchendach für Misstöne in der Stadtverwaltung.

Wir steigen wieder vom Turm herab und machen dabei noch einen kleinen Umweg ins Glockengeschoss des Nordturms. Da hängt das richtig große Geläut. Der dickste Brocken ist die Kaiserglocke. Alleine der Klöppel wiegt rund drei mal so viel wie mein Mopped. Zum Stundenschlag wird die Glocke allerdings nur mit einem mechanisch betätigten Hammer angeschlagen. Das hat den Vorteil, dass man als besichtigender Tourist nicht während der Führung vor 14 Tonnen hin- und herpendelnden Gussstahls erschlagen wird. Und man kann sich, wenn man das möchte, nach dem Anschlagen in die noch lange nachschwingende Glocke stellen, und die Vibrationen genießen. Ein Wahnsinnsgefühl!

Im Jahr 1755 wurde Joseph Hayn zum Türmer ernannt. Er war als fahrender Musikant nach Neustadt gekommen und hatte zunächst als Geselle bei seinem Vorgänger angefangen. Er begründete eine Türmerdynastie, die endlich Ruhe ins Gebälk der Stiftskirche brachte. Die Familie Hayn stellte von nun an für die nächsten 215 Jahre alle Türmer und Türmerinnen, bis zu Heinrich Hayn, dem letzten Turmwächter von Neustadt. Er war im Frühling des Jahres 1970 wegen einer schweren Erkrankung ins Krankenhaus eingeliefert worden. Als ihm klar wurde, dass er diese Krankheit nicht überleben würde, bat er darum, wieder ins Türmerhaus gebracht zu werden, in dem er im Jahr 1891 das Licht der Welt erblickt hatte und in dem er sein ganzes Leben gewohnt hatte. Sanitäter, die Feuerwehr und seine Tochter Linda erfüllten ihm diesen Wunsch am 21. März 1970. Als seine Tochter schließlich am 25. März zu ungewohnter Zeit die Kaiserglocke läutete wussten die Neustadter, dass ihr letzter Türmer gestorben war.

Beim Verlassen des Turms unterhalte ich mich noch kurz mit einem der Wanderer. Mit "Rheinländer" lag ich gar nicht so schlecht. Die Gruppe ist aus Bonn angereist. Ursprünglich stammen die zwar nicht von dort, aber wer mehr als ein Jahrzehnt im Rheinland verbringt, der gehört dort in der Regel dazu. Völlig egal, welcher Religion, Muttersprache, Hautfarbe oder Nationalität der Zugereiste angehört. "Sie werden assimiliert - Widerstand ist zwecklos. Prost und Alaaf!" Wir Rheinländer sind schließlich die Borg des Deutschland-Quadranten.

Die nette Dame, die die Gruppe begleitet hat, das erfahre ich eine Woche später zufällig, ist Wirtin in einer Neustadter Gaststätte. Ich gehe manchmal an Sonntagen dort frühstücken. Sie ist mir sofort bekannt vorgekommen, ich konnte sie aber nicht zuordnen, weil ich mich als Morgenmuffel zum Frühstück eher mit der Lektüre von Krimis beschäftige als auf meine Umgebung zu achten. Vielleicht gehe ich ja in der nächsten Zeit auch einmal am Abend dort hin. Wo ich aber ganz sicher noch einmal hingehen werde ist hoffentlich klar: Der Turm hat mich nicht zum letzten Mal gesehen. Der nächste Gipfelsturm erfolgt bei schönem Wetter!

P.S.:
Wen die Geschichten um die Türmer von Neustadt ebenso anrühren wie mich, dem sei dieses Buch empfohlen.

Sonntag, 10. Mai 2009

7. Der Wächter

Ich streife durch meine Gegend und finde mich im zoologischen Garten in Landau wieder. Der liegt nahe der Universität in den Resten der ehemaligen Stadtbefestigung und ist für mich gut zu erreichen. Ich habe mich dort sogar schon mit den Schülern meiner Biologie-Leistungskurse getroffen. Wir haben uns über evolutionäre Anpassungen an ökologische Gegebenheiten ausgetauscht, uns um das Für und Wider der Zoohaltung gestritten und letzten Endes auch unseren Spaß beim Betrachten der Tiere gehabt.

Und natürlich zieht es mich wieder unwiderstehlich zu IHM. ER ist mir schon so oft aufgefallen. ER steht auf seinem kleinen Hügel im Erdmännchengehege und bewacht mit grimmiger Miene seinen Clan. ER steht den ganzen Tag an dieser Stelle, schaut mal nach vorne, mal nach hinten, bald nach der einen Seite, dann wieder zur Anderen...
ER ist...
DER WÄCHTER.

Eigentlich habe ich Zoos nie gemocht. Enge Tierknäste mit verhaltensgestörten Elefanten in viel zu kleinen Gehegen. Depressive Menschenaffen die den ganzen Tag traurig am Gitter herumhängen oder zornig auf Panzerglas eindreschen und verkrüppelte Flamingos die verstört auf der Wiese herumstehen. Aber die Zeiten ändern sich und mit ihnen auch die zoologischen Gärten. Man hält immer weniger Tiere auf immer mehr Platz, Wildfänge sind inzwischen tabu und es gibt weltweite Nachzuchtprogramme für vom Aussterben bedrohte Tierarten. Natürlich hat sich auch meine Wahrnehmung verändert.

Ich nehme das 300er Tele und beobachte die Erdmännchen durch die Kamera. Irgendwo am Rand des kleinen Geheges wird fleißig gegraben. Dabei steckt eines der possierlichen Tierchen bis zum Bauch in einem Erdloch und schaufelt aus Leibeskräften Erde mit seinen Vorderbeinen zwischen den Hinterbeinen hindurch. Diesen Anblick möchte ich festhalten. Aber, wie auf ein geheimes Zeichen, steht auf einmal DER WÄCHTER im Bild und schaut mich durch das Teleobjektiv hindurch mit mürrischem Gesichtsausdruck an. Erst vor ein paar Tagen habe ich im Fernsehen einen lustigen Trickfilm gesehen. Unter anderem ging es um die Flucht einiger Zootiere aus dem New Yorker Zoo. Eine wichtige Rolle spielte hierbei eine Gruppe militärisch straff organisierter Pinguine und ein durch sie gebuddelter Fluchttunnel. "Die Erdmännchen wollen sich in die Freiheit graben, und DER WÄCHTER steht Schmiere." schießt es mir durch dem Kopf, und ich kann vor Lachen erst einmal nicht mehr fotografieren. Ein anderer Besucher ist inzwischen ebenfalls auf den Tunnelbauer aufmerksam geworden: "Was ist, wenn die Erdmännchen sich bis auf die andere Seite graben?" fragt ein kleines Mädchen seinen Vater.


Gar nicht zum Lachen war die Haltung der Zootiere noch vor wenigen Jahrzehnten: So wurden Braunbären früher in den so genannten Bärenzwingern gehalten. Das waren kahle, nach oben offene und an den Wänden betonierte Gruben, in denen sich die Einzeltiere meist zu dritt oder zu viert nicht aus dem Weg gehen konnten, denn Bärenzwinger waren erschreckend klein. So etwas habe ich noch vor etwas mehr als zehn Jahren sehen müssen - ich verrate jetzt nicht in welcher Stadt das war, denn man will ja niemanden anprangern. Unwürdig, so etwas! In Landau bietet sich dem Besucher ein anderes Bild: Zum Gelände des Zoos gehört ein Teil der ehemaligen Stadtbefestigungsanlage. Der Stadtgraben enthält heute kein Wasser mehr, sondern Bären. Und zwar erfrischend wenige. Das mit Bäumen und Büschen bepflanzte Gelände hat eine für Zooverhältnisse komfortable Größe, die Tiere können sich gut aus dem Weg gehen und müssen sich auch nicht vom Publikum angaffen lassen, wenn sie das nicht wollen. Als Besucher wird man über einen Steg in luftiger Höhe an dem Gehege vorbeigeführt, wenn man Glück hat, kann man einen Blick auf die Bären erhaschen, wenn nicht ist das auch gut, denn man hat wenigstens ein gutes Gewissen den Tieren gegenüber. Trotzdem bin ich mir sicher, dass Meister Petz lieber im Bayerischen Wald herumtoben würde, als im Stadtgraben von Landau. Aber wie es den Bären dort ergeht, haben wir ja vor einiger Zeit in den Nachrichten gesehen.

DER WÄCHTER hat sich inzwischen vor der Tunnelbaustelle auf den Boden geworfen. Er rollt eine Weile hin und her, und entfernt sich dabei nach und nach von dem Loch. Geschickt zieht er die Aufmerksamkeit der Beobachter auf sich indem er die putzigsten Possen reißt. Im Loch wird weiter gebuddelt. Wieder muss ich an die Trickfilmpinguine denken. "Nicht vergessen Leute: süß und knuddelig, süß und knuddelig!" raunt der Chef der Pinguinbande seinen Kumpanen zu, als sie auf der Flucht von der Polizei gestellt werden. Und auf dieses Kommando hin gebärden sich die Vögel so drollig, dass niemand auf die Idee kommt, ihnen eine absichtliche Flucht, verschlagene Planung oder gar militärischen Drill zuzutrauen. Ein genialer Schachzug.

Natürlich wünsche ich allen Zootieren kompromisslos die Freiheit. Aber Wunsch und Wirklichkeit passen nicht immer zusammen. Nehmen wir die Wildtiere Ghanas. Ghana passt zwar nicht unbedingt zu den Erdmännchen, ist aber trotzdem ein gutes Beispiel. Durch medizinische Versorgung und durch bessere Nahrungsmittelversorgung konnte die Sterblichkeit hier in den letzten Jahren deutlich gesenkt werden - allerdings reden wir jetzt von den Menschen, nicht von den Menschenaffen. Da die Geburtenrate aber nicht im gleichen Maß gesenkt wurde, steigt die Bevölkerungszahl an. Und zwar schnell. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Bevölkerung fast verdoppelt. Und dieses Mal ist Benedikt nicht einmal schuld, denn hier sind nur 10% der Menschen katholisch.
"Alles halb so wild, in Ghana wird ohnehin traditionell viel Fisch gegessen, und die Fischgründe vor der Küste sind reich." werden Sie vielleicht jetzt einwenden. "Doch ein Problem, denn die Meere rund um Europa leiden an Überfischung." würde ich ihnen dann antworten. Die hoch subventionierten europäischen Fabriktrawler weichen immer häufiger an die afrikanischen Küsten aus. Die Lizenzen dafür gibt es in jedem Drittweltland für einen Appel und ein Ei, oder man bleibt gleich in internationalen Gewässern und fischt die mit kilometerlangen Schleppnetzen buchstäblich leer. Das Ergebnis ist immer das gleiche: die einheimischen Fischer fangen immer weniger. Und wenn der Hunger kommt, besinnt man sich auf eine alte Tradition zur Überbrückung von Notzeiten: Bushmeat. Als Bushmeat bezeichnen die Menschen dort die Tiere, die man in den Savannen und den Regenwäldern jagen kann. Gegessen wird in der Not quasi alles, was nicht zurückschießt. Und das sind nicht selten alte Bekannte aus den Zoos: Warzenschweine, Antilopen, Schimpansen, Paviane, Gazellen...

DER WÄCHTER startet als Geheimwaffe jetzt seine Charmeoffensive. Er räkelt sich genießerisch mit halb geschlossenen Augen im Sand und niemand außer mir beobachtet den Tunnelgräber. Der ist inzwischen ohnehin kaum noch zu sehen, da er fast in seinem Loch verschwindet. Die Erdmännchen haben meine volle Sympathie und ich habe beschlossen, sie nicht zu verpfeifen. Als mich DER WÄCHTER noch einmal kurz anschaut, kann ich mir ein verschwörerisches Zwinkern nicht verkneifen. ER zwinkert zurück, ermahnt mich noch einmal, süß und knuddelig zu bleiben und wälzt sich unter den "Ach wie goooldig!"-Rufen der Zoobesucher wieder im Sand.

Sehr nachdenklich verlasse ich den Zoo.

Mittwoch, 18. Februar 2009

6. Der lange Winter

Ich streife durch die Straßen meiner Stadt, und ich sehe Grau. Hellgrau, Dunkelgrau, ganz, ganz helles Eisgrau (fast schon Weiß), Mittelgrau, Dunkelgrau, frostiges Glitzergrau, wolkiges Grau, Betongrau (wird z. Zt. für über 4,5 Mio. Euronen geräuschvoll saniert), Metallgrau, Waschbetongrau, ganz dunkles Mülltonnengrau, schmutziges Moppedgrau, Mausgrau, graue Klamotten, grauer Staub, grauer Schnee, grau, grau und nochmals grau!

Der Balkon ist grau, die Häuser sind grau, meine Haare sowieso, selbst die braun gestrichenen Fachwerkbalken der Altstadt sehen im Halbdunkel des morgendlichen Wegs zur Arbeit unter Kunstlicht grau aus.

Grau, grau und grau!

Es kotz mich an!
ICH KANN ES NICHT MEHR SEHEN!

Ich fange schon an, in meiner Wohnung herumzulaufen, um hier Gegenstände zu fotografieren.

Der Bleistiftspitzer! Das könnte ein schönes Bild werden. Oder der schicke Kugelschreiber.

Das Notebook, das alte Balgengerät, der Kartoffelstampfer oder das Gyroskop.... alles tolle Bilder. Aber draußen bleibt es grau in grau.
Ich mag mein graues Käsegesicht nicht mehr im Spiegel ansehen müssen. Und die ganzen Viren und Bakterien sollen doch gefälligst bleiben, wo der Pfeffer wächst! Ich will wieder umschwirrt werden von roten Marienkäfern, von signalgelben Wespen und goldfarbenen Schwebfliegen. Ich will wieder Frühling riechen. Jetzt! Ich weiß, dass es eigentlich zu früh ist für Frühlingsgefühle. Es ist Februar, was soll man da schon anderes erwarten. In meiner Kindheit habe ich Winter erlebt, in denen es im Februar immer noch einmal richtig kalt und verschneit wurde. Damals gab es ja auch noch keine Klimaveränderung. Oder es wusste wenigstens noch keiner. Aber für dieses Jahr ist es einfach genug. Wenn schon Klimaerwärmung, dann will ich auch etwas davon haben.

Mir fällt erst jetzt auf, dass diese Gegenstände auf meinen Winterbildern alle eines gemeinsam haben: die Farbe Grau. Nicht auch das noch! In meiner Verzweifelten Suche nach Farbe werde ich auf dem Wochenmarkt fündig. Die kesse junge Marktfrau mit dem kleinen Piercing an der Oberlippe verkauft mir säckeweise Zitrusfrüchte, Kiwis und Granatäpfel. Damit inszeniere ich in meiner Küche Stilleben. Schreibt man das nach neuer Rechtschreibung eigentlich mit drei "L"?

Damals in Zwickau waren die Winter noch heftig. Bei Ausflügen ins Erzgebirge konnte man da schon einmal Ende Februar in Schneeverwehungen liegenbleiben. In meinem ersten Jahr in Zwickau wurde an meiner dortigen Schule noch gebaut. Im Winter habe ich mich dann öfter in Freistunden zu den Bauarbeitern in den Hof gestellt, um meiner Nikotinsucht zu fröhnen. Bei dieser Gelegenheit habe ich mich einmal über den vielen Schnee im Zwickauer Winter gewundert. Einer der Arbeiter versicherte mir darauf glaubhaft, dass vor der Wende immer viel mehr Schnee gefallen sei. Im Ernst!
In einem Jahr hatte ich dort Anfang Mai noch ein Schneegestöber und dann Ende des Monats die erste Hitzewelle. Benutze ich heute noch als Beispiel, um meinen Schülern Kontinentalität von Klima zu veranschaulichen: Da dauerte der Frühling glatt zwei Wochen. 

Beim Herstellen der inszenierten Fruchtsaftbilder habe ich dann doch noch für ein paar Stunden Farbigkeit vor Augen. Und gesund soll es ja auch sein, das viele Obst. Aber frische, heimische Erdbeeren wären mir dann doch lieber.