Nein.
Heute streife ich ja gar nicht.
Ich eile. Und das nicht nur weil es regnet.
Zielstrebig den Weg entlang, den ich schon an anderer Stelle beschrieben habe: An der Ampel links an der Polizei und dem neuen Grünzug am Ufer des Speyerbachs vorbei, an der nächsten Ampel wieder die Straße überqueren und dann rechts abbiegen. Nach einigen Metern gehe ich mit klopfendem Herzen durch das schmiedeeiserne Tor. Im Park schnell den Berg hinauf, rechts die Seqoias, links die stolzgeschwellte Hose. Ich kann es kaum erwarten, zu "meinen" Schauspielern zu kommen, denn heute ist Generalprobe. Dabei geht mir ausgerechnet jetzt ein altes Lied nicht aus dem Kopf:
"Leute, nehmt eure Wäsche weg, schließt die Gartentür zu:
Musikanten sind in der Stadt!
Bringt die Katz ins Versteck, die Wäscheleine dazu:
Musikanten sind in der Stadt!
Und was da nicht ganz niet- und nagelfest ist,
Und was keinen Riegel vor hat,
Das wird sofort geklaut und bleibt ewig vermißt:
Musikanten sind in der Stadt!
Erbarmen, Musikanten sind in der Stadt!"Warum will mir dieses Lied nicht mehr aus dem Sinn? Musikanten, Schauspieler, Gaukler, Taschenspieler und Hausierer wurden im Mittelalter oft in einem Atemzug genannt. Bevor es Theater gab gehörten sie zum fahrenden Volk und zu den unehrlichen (ehrlosen) Berufen. Auch Scharfrichter, Hübschlerinnen (Prostituierte), Turmwächter, Zöllner und Büttel (Polizisten/Gerichtsdiener) wurden interessanterweise in diese Schublade gesteckt. Menschen am Rande der Gesellschaft, ausgegrenzt, oft in Armut gefangen und außerhalb der Stadtmauern untergebracht. Im Kriegsfall deshalb schutzlos. Ehrlos bedeutete auch wehrlos.
"Fahrende Leute, im Mittelalter die einzeln oder in Banden umherwandernden Gaukler, Taschenspieler, Erzähler, Sänger, Spielleute, Mimen und andre unterhaltsame Leute, die allmählich die alten in höherer Schätzung befindlichen Barden, Volkssänger und Harfenspieler aufsogen. Allerdings übten auch die Fahrenden Instrumentalmusik und führten im Frühjahr Schwerttänze, im Winter gymnastische Künste, Puppenspiele etc. auf. Ihre Vorführungen waren oft so halsbrecherischer Natur, daß sie sich, wie Joinville erzählt, jedesmal vorher bekreuzigten. Die Schloßherren, denen sie in ihrer Einsamkeit willkommene Besucher waren, lösten sie nachher aus der Schenke aus, zeitweise hatte auch die Geistlichkeit die Pflicht, sie zu beherbergen. Nach den Kreuzzügen erhielten sie großen Zulauf aus fahrenden Priestern, Nonnen, Beghinen, Scholaren, wie sich ihnen auch Zigeuner, Söldner und Landsknechte anschlossen. Obgleich als Verbreiter von Dichtungen, Sagen, Neuigkeiten, Schauspielen überall beliebt, blieben die Vertreter der heitern Kunst (gaya scienza) doch als sogen. unehrliche Leute anrüchig und verachtet. Gesetz und Kirche stießen sie aus, sie waren rechtlos, und die kirchlichen Sakramente blieben ihnen vorenthalten. Gleich den Knechten durften sie nicht die Tracht des freien Mannes anlegen. Die Folge war, daß sie unter sich eigentümliche, z. T. ergötzliche Formen und Vereinbarungen einführten, und so entstanden das »Königtum der fahrenden Leute im Elsaß«, das »Pfeiferrecht und der Pfeifertag (Dienstag nach Mariä Geburt) zu Rappoltsweiler«. Die Herren von Rappoltstein präsidierten als Pfeiferkönige dem Pfeifergericht. Im 14. und 15. Jahrh. waren sie etwas günstiger gestellt, seit der Reformation aber beschränkten polizeiliche Maßregeln ihre Ungebundenheit und Zahl. Während des Dreißigjährigen Krieges und später erhielten sie dann neuen Zuwachs durch Alchimisten, Geisterbeschwörer, Schatzgräber, Bärenführer, Komödianten und andre »Landstörtzer«, die namentlich aus Italien zuströmten. Ein Nachklang existiert noch heute in den Orgeldrehern und den umherziehenden Kunstreitern, Seiltänzern und Schauspielergesellschaften (sogen. Schmieren)."
"Wirte macht den Bierhahn dicht:
Sichert dreifach das Tor:
Musikanten sind in der Stadt!
Löscht im Fenster das Licht,
Nagelt Balken davor:
Musikanten sind in der Stadt!
Die singen und gröln bis der Morgen anbricht,
Die würfeln und fressen sich satt,
Die raufen und saufen und zahlen dann nicht:
Musikanten sind in der Stadt!
Erbarmen, Musikanten sind in der Stadt!"
Und tatsächlich kommt es mir im Keller der alten Villa ein Bisschen so vor, wie ich mir das Treiben in einem Zigeunerwagen vorstelle: Irgendwer hat ein paar Brotlaibe mitgebracht, Käse und Wurst sind auch da. Es herrscht gute Stimmung, obwohl die Probe buchstäblich ins Wasser zu fallen droht. "Noch ein Sektchen?" tönt es von rechts "Die Flasche ist aber schon leer!" krähen einer der Darsteller und ich im Chor, als hätten wir's abgesprochen. Irgendwie wird es schon gehen, schließlich haben sie in der Hauptprobe am vergangenen Wochenende das Stück schon einmal in einem Rutsch durchgespielt. Also warum die geliehenen Kostüme versauen? Warum auf dem nassen Bühnenboden ausrutschen, um womöglich zwei Tage vor der Premiere noch einen weiteren Darsteller verletzungsbedingt zu verlieren? Einer hat sich schon vor zwei Wochen den Arm gebrochen. Andererseits hat es bei der Hauptprobe durchaus noch ein paar Hänger gegeben. Teilweise war das zum Schreien komisch, mündete in regelrechte Kicheranfälle und Lachkrämpfe, wie ich sie sonst nur bei den Mädchen in der achten Klasse kenne. So etwas sollte in einer Vorstellung mit Publikum natürlich nicht passieren.
"An den Gasthof schreibt Ruhetag,
Alle Betten belegt:
Musikanten sind in der Stadt!
Bevor es wie ein Schicksalsschlag
Durch die Herberge fegt:
Musikanten sind in der Stadt!
Die kneifen Eure Mägde mit frevelnder Hand,
Verwüsten die Stuben euch glatt.
Wer Lieder singt, steckt auch die Herberg in Brand:
Musikanten sind in der Stadt!
Erbarmen, Musikanten sind in der Stadt!"
Die große Mehrheit der Bevölkerung war in vorindustrieller Zeit nicht im Stande, Reserven zu bilden. So konnte man in Krisenzeiten und bei Arbeitsplatzverlust schnell auf der sozialen Leiter absteigen, sein Obdach und damit auch seinen Stand verlieren. Das fahrende Volk bekam somit stetigen Zulauf. Im Durchschnitt fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung Mitteleuropas war so bis ins ausgehende 19. Jahrhundert ständig auf der Walz, in Krisenzeiten schnell auch deutlich mehr. Das Elend war unvorstellbar. Und so war es schwer, ehrlich zu bleiben. Taschendiebe und Beutelschneider reisten mit den Schauspielern und Gauklern. Während man auf den Bühnen das Publikum erheiterte, wurden Börsen aus den Taschen gezogen. Vorn spuckte jemand Feuer, hinten wurden Geldbeutel vom Gürtel geschnitten. In Kriegs- und Krisenzeiten, aber auch im Winter, wenn mit Freiluftaufführungen kein Auskommen zu erzielen war, Rekrutierten sich aus den Scharen der Obdachlosen auch Räuberbanden wie die vom Hölzerlips oder vom Schinderhannes, die auf den Reisewegen auch vor Überfällen und Morden nicht zurückschreckten.
"Krämer holt eure Habe rein,
Die Budiken schließt ab:
Musikanten sind in der Stadt!
Zählt die Flaschen Bier und Wein,
Laßt die Gitter herab:
Musikanten sind in der Stadt!
Die plündern den Keller, das Lager zerfällt,
Die feilschen und fordern Rabatt
Und zu guter Letzt samt der Kasse das Geld:
Musikanten sind in der Stadt!
Erbarmen, Musikanten sind in der Stadt!"
Irgendwann hört der Regen damit auf, auf den Bühnenboden zu trommeln. Jetzt aber rasch, denn die Generalprobe soll pünktlich um acht beginnen. Die Nachbarn der alten Villa sind eingeladen, als Entschädigung für den Lärm an den vergangenen Wochenenden sozusagen. Es kommt also zum ersten mal reguläres Publikum. Alles muss ganz schnell gehen, deshalb fasse ich selbstverständlich mit an: Kulissen aufbauen, Bühne und Stuhlreihen trocknen. Tontechnik und Scheinwerfer werden herbeigeschleppt und angeschlossen. Die Schauspieler schlüpfen in ihre Kostüme, für die Maske bleibt keine Zeit. Und schon geht es los: Vivaldi tönt aus den Lautsprechern, die ersten drei Akte gehen reibungslos über die Bühne. Eine Pause, die Akte vier und fünf dann mit Scheinwerferlicht, denn inzwischen ist es dunkel. In der ganzen Zeit fotografiere ich nicht, denn ich habe bereits alles aus verschiedenen Perspektiven gesehen und abgelichtet. Ich brauche nur noch ein einziges Bild: Ich hoffe darauf, die Kamera nach der letzten Szene mit einem Fischauge bestückt in der Mitte des Bühnenhintergrunds aufstellen zu können. Ich möchte die Schauspieler in einer Reihe aufgestellt bei der Verbeugung ablichten, im Gegenlicht der Scheinwerfer. Dadurch hätte ich eine Aufnahme aus ihrer Perspektive: Mit dem Gesicht zum Publikum, welches man aber wegen des gleißenden Lichts nicht sehen kann.
"Bürger, bringt euch in Sicherheit,
Legt die Schrotflinten an:
Musikanten sind in der Stadt!
Macht Schwefel und Pech bereit,
Und dann rette sich wer kann:
Musikanten sind in der Stadt!
Die schänden Eure Frauen und Töchter alsbald,
Doch nicht nur was Röcke an hat,
Die machen auch vor Greis und Haustier nicht halt!
Musikanten sind in der Stadt!
Erbarmen, Musikanten sind in der Stadt!"
Jean-Baptiste Poquelin war im Frankreich des 17. Jahrhunderts ein solcher Wanderschauspieler. Er kam allerdings freiwillig und aus Leidenschaft zur Bühne, nicht aus Not. Die Wandertruppe, der er sich anschloss, hatte wohl reiche Gönner, deshalb waren ihre Mitglieder vermutlich nie auf krumme Touren angewiesen. Trotzdem ging ihnen irgendwann doch das Geld aus, und so landete Poquelin vorübergehend im Schuldturm. Doch er kam wieder frei, stieg innerhalb der Gruppe rasch auf und schrieb sogar eigene Stücke. Unter anderem auch "L'Étourdie ou Les Contretemps" ("Der Tolpatsch oder die Querstreiche"), eine in Versen verfasste Komödie im Stil der italienischen Comedia dell'arte. Immerhin 13 Jahre wanderte er umher, bis er schließlich in Paris unter dem Namen Molière erfolgreich wurde. Seine Komödie vom tollpatschigen jungen Mann, der sich in eine Sklavin verliebt und sich ohne seinen pfiffigen Diener nicht zu helfen weiß, wurde immer wieder aufgeführt, unter anderem 1973 von einer Gruppe unbekannter Laienschauspieler in Neustadt an der Weinstraße. Und eben diese Schauspielgruppe, inzwischen natürlich in anderer Besetzung, lässt es mit mit der ungereimten Übersetzung der Bühnenstücks unter dem Namen "Der Knallkopf" 38 Jahre später wieder so richtig krachen.
"Oh, Heiliger Barnabas,
Schutzpatron dieser Stadt,
Musikanten sind vor dem Tor!
Zerschlag Geige und Kontrabaß,
Die Trompeten walz platt:
Musikanten sind vor dem Tor!
Oh, schütz uns vor Sturmesflut, Feuer und Wind,
Vor Pest und vor Epidemien
Und vor Musikanten, die auf Reisen sind,
Oder laß mich mit ihnen ziehn!"
Während das Stück seinem Ende zustrebt, setzt der Regen wieder ein. Erst nieselt es nur, dann, innerhalb weniger Minuten, schüttet es wie aus Eimern. Es kann gerade noch die letzte Szene zu Ende gespielt werden, dann muss sofort gehandelt werden: Zuerst im Licht der Bühnenscheinwerfer die Kulissen retten, damit die Farbe nicht abgewaschen wird. Dann so schnell wie möglich die technischen Geräte sichern. An mein sorgfältig ausgedachtes Finalebild denke ich keine Sekunde mehr. Aber was soll's? Mache ich es eben im nächsten Jahr.
Sehens- und Lesenswert in diesem Zusammenhang:
- Neustadter Schauspielgruppe
- Bilder von den Proben
- Meyers Großes Konversations-Lexikon
- Wikipedia-Artikel zu Molière
- Wikipedia-Artikel "Fahrendes Volk"
- Theater-Wiki-Artikel "Schauspieler"
- Mittelalter-Server-Artikel "unehrliche Berufe"
Die Strophen des bekannten Liedes "Musikanten sind in der Stadt" entstammen der Feder von Reinhard Mey.
Nachtrag:
Zu dem von mir so herbeigesehnten Schlussbild ist es dann bei einer der späteren Aufführungen doch noch gekommen. Es sieht so aus: