Noch vor ein paar Jahren habe ich am Hetzelplatz gewohnt, mit Blick auf den Bahnhofsvorplatz. Und das sollte man wissen, damit man versteht, warum ich mich am Tag des Umzugs früher immer nach Speyer oder ins idyllische Rhodt unter Rietburg abgesetzt habe. Auf dem Bahnhofsvorplatz werden schon Wochen vor dem eigentlichen Fest die "Haiselscher" aufgebaut. Das sind kleine Häuschen in Fachwerkoptik, in denen die Menschen auf harten Holzbänken sitzen, und "Neuen Wein" oder auch Rieslingschorle (das Glas mit Wein füllen und einen Spritzer Wasser dazu) aus Halblitergläsern bechern. Diese "Schoppengläser" werden dabei herumgereicht wie der brennende Joint in der Studenten-WG. "Der Schoppen muss kreisen" sagt man hier, weshalb man ihn ja auch "Trollschoppen" nennt, aber das zu erklären würde jetzt zu weit führen. Dazu gibt es Schunkel- und Mitsingmusik auf der Bühne und deftige Pfälzer Gerichte. Das ist gesellig und es macht fröhlich und betrunken. Klasse für den der feiert, blöd, wenn man direkt daneben wohnt.
Direkt neben dem Ü-Wagen des Südwestrundfunks interviewt eine asiatisch aussehende Dame im eleganten Kostüm einen Passanten. Das Logo auf der zu der Dame gehörenden Fernsehkamera ist mir unbekannt. Ich entdecke im Tross dieses Fernsehsenders auch einen Fotografen der eine sehr beeindruckende Canon mit Teleobjektiv benutzt. Ich mache ein Bild von dem Fotografen, er bemerkt mich, und so kommen wir ins Gespräch. Ich erfahre, dass seine Delegation extra aus der Chinesischen Partnerstadt Neustadts angereist ist, um über das Fest zu berichten. Damit, dass man sich auch in Quanzhou im fernen China für die Haiselscher interessiert, hatte ich nicht gerechnet. Wahrscheinlich sind es auch eher die bildhübschen Weinprinzessinnen, die für den Chinesischen Sender gefilmt werden sollen.
Im Laufe der mehrwöchigen Feierlichkeiten wird irgendwann zusätzlich noch ein großer Rummel aufgebaut, mit Riesenrad und Kettenkarussell, und spätestens dann mischt sich die eben beschriebene Geräuschkulisse mit den Anmachsprüchen der Schausteller und den aus der Konserve stammenden Top Ten aus den Lautsprechern. Am letzten Wochenende des Festes wird stets noch einer draufgesetzt: Auf den Hetzelplatz werden dann kleine Zelte gestellt - für jede deutsche Weinbauregion eines. Hier gibt es dann neben den verschiedenen Weinen aus ganz Deutschland auch mediterrane Spezialitäten für die Toscanafraktion und dazu selbstverständlich leichte Jazzmusik. Hier wird mit Niveau getrunken!
Ich versuche einmal, das akustische Szenario in meinem damaligen Arbeitszimmer am Morgen des Festumzugs zu schildern: "Woooollt Ihr noch 'ne Rrrundeee?" und dazu irgendeine Boygroup aus den Lautsprechern des Riesenrads. "Das ist der Anton aus Tirol!" schallt es von den Haiselscher herüber, und direkt unter meinem Fenster gibt es zum Frühstück Dixiland. Wenn dann bei den Haiselscher zum fünfzehnten Mal versichert wird, dass der alte Holzmichel immer noch nicht das Zeitliche gesegnet hat, fängt direkt neben der Dixiland-Kapelle eine rücksichtslose Indiogruppe in verfilzten Alpakaponchos an, den Geräuschteppich mit Panflöten, Trommeln und Gesängen zuzukleistern. Die arbeiten jetzt mit tragbaren, batteriebetriebenen Verstärkern, und damit können die sogar gegen ein kleines Tambourcorps anstinken.
Wo Sie grade sagen "Tabourcorps": das ist in der Regel der Zeitpunkt, zu dem ein GROSSES, mit der Bahn angereistes Tambourcorps durch die Betonunterführung vom Bahnhof zum Hetzelplatz marschiert. Und natürlich nutzen sie ihren durch die reflektierenden Tunnelwände erzeugten akustischen Vorteil gegenüber den Indios schamlos aus und spielen noch in der Röhre ihre Instrumente warm. "Laut" ist untertrieben! Auf jeden Fall verliert die Dixilandkombo. Und der genervte Anwohner. Wie gesagt: Schön, für den der feiert, es sei ihm von ganzem Herzen gegönnt. Aber wehe, wenn man direkt daneben lebt.
Soweit, so gut. Beruhigend, dass ich inzwischen nicht mehr am Hetzelplatz wohne. Heute sehe ich das Fest viel entspannter und gelassener. Ich gehe in mein Lieblingscafé, seine Geschichte habe ich ja bereits erzählt, und frühstücke an einem schönen, sonnenbeschienenen Tisch. Dabei freue ich mich über vorbeimarschierende, farbenprächtig kostümierte Fanfarenzüge ebenso wie über die Indios, denn an meinem Café wird noch nicht gespielt, es liegt zu weit abseits von der Hauptrummelachse. Die Akkus meiner Kamera habe ich über Nacht frisch aufgeladen, und während ich mein Frühstück verzehre schaue ich mir auf dem Display noch einmal die Fotos an, die ich in den letzten Wochen von den Haiselscher, vom Rummel und vom Korkenzieherdenkmal auf dem Hetzelplatz gemacht habe. Schöne Bilder! Ich habe sie längst auf die Festplatte meines Computers übertragen, und so kann ich die Speicherkarten jetzt getrost löschen. Denn heute werde ich mich ins Getümmel stürzen, und mir den ganzen Umzug zum ersten Mal vom Anfang bis zum Ende ansehen. Und Bilder will ich dabei machen. Viele Bilder. Wäre doch gelacht, wenn ich nicht dahinter kommen würde, was der Pfälzer an diesem Brauchtum findet. Ich komme mir vor, wie ein Anthropologe auf einer Exkursion in ein fremdes Land, wo er unter Lebensgefahr die rätselhaften Rituale der Eingeborenen studiert.
Nach dem Frühstück mache ich mich auf, um einen schönen Platz mit Blick auf den Festumzug zu suchen. Gar nicht so einfach, denn genau das haben tausende Menschen vor mir auch schon getan. An allen Straßenrändern stehen sie dicht gedrängt und warten auf das große Ereignis. Da der Umzug noch nicht begonnen hat, kann ich mir aber auf der Suche nach einem Tribünenplatz Zeit nehmen, und fast die gesamte Strecke ablaufen.
Zuerst statte ich dem Standort des Offenen Kanals einen Besuch ab. Die übertragen schon seit Jahren den Festumzug live im Kabelnetz und zwar immer von derselben Stelle aus. Da haben sie nämlich mit vielen Tricks und Beziehungen ein Kabel installieren können, welches die Direktübertragung überhaupt erst ermöglicht. Das weiß ich von einem Freund, der sich beim Offenen Kanal sehr engagiert. Ich spekuliere darauf, ihn dort zu treffen, um dann die erhöhte Kameraplattform des Fernsehsenders für meine Fotos zu nutzen. Das wäre ein toller Platz zum Fotografieren. Leider treffe ich ihn aber nicht. Außerdem ist die Plattform ohnehin viel zu klein für unangemeldeten Besuch. Also suche ich weiter.
Ich finde einen guten Platz am Rand eines Parkplatzes. Hier steht man etwas erhöht und hat eine gute Sicht über die Köpfe der anderen Zuschauer hinweg. Und dann geht es auch schon los. Ich fotografiere wie blöde. Erst nach dem zweiten oder dritten Wagen fällt mir auf, dass das grüne Haus mit der Leuchtreklame "Eros Center" kein so schöner Hintergrund für meine Bilder ist. Außerdem scheinen in der Umgebung des Parkplatzes viele Hundebesitzer zu wohnen, denn der Geruch ist hier... ich will es einmal nicht so drastisch ausdrücken: streng. Das erklärt auch, warum an einem derart sensationellen Aussichtspunkt noch Plätze frei waren. Da ich die Route des Festumzugs kenne, brauche ich aber nur ein paar Minuten, um einen anderen Standort zu finden, an dem das Spektakel zudem noch nicht einmal begonnen hat. Hier ist meine Sicht auf die Festwagen zwar nicht ganz so gut, aber dafür kann ich sie und die Fußgruppen jetzt in einer etwas weniger anrüchigen Atmosphäre abbilden.
Und was für ein Spektakel dieser Umzug ist! Ich sehe darin Menschen, die eben erst das Laufen erlernt haben und solche, die gerade noch laufen können. Erwachsene, Kinder, würdige Greise und sogar Jugendliche beteiligen sich völlig selbstverständlich. Ich beobachte Tagelöhner, Tunten, transilvanische Vampire und teutonische Hühnen. Ich sehe Menschen in allen Hautfarben, von allen Kontinenten und Menschen, die in den Moden der letzten 15 Jahrhunderte kostümiert sind. Unglaublich! Als ich im Alter der gerade in einem wassergefüllten Bottich herumplanschenden Jungwinzer war, wäre ich schon bei der Nennung des Wortes "Brauchtumspflege" schreiend davongelaufen. Und hier wird das einfach gelebt. In einer Zeitschrift las ich vor kurzem, dass man die sprichwörtliche Heimatverbundenheit der Pfälzer am besten verstehen kann, wenn man auf eines der vielen traditionellen Feste geht. Erst jetzt begreife ich diese Aussage.
Was ich übrigens nicht sehe, sind Komabetrunkene wie sie bei den Karnevalsumzügen meiner rheinischen Heimat zu hunderten zu finden sind. Wenn ich es genau bedenke, sehe ich überhaupt nur einen Menschen, der wenigstens ansatzweise betrunken wirkt, und der kann dabei immerhin noch Einrad fahren. Merkwürdig. Eigentlich hatte ich entsprechende Exzesse erwartet, denn überall wird fröhlich gezecht. Viele bringen sich sogar ihre eigenen Gläser mit, und die Winzer schenken fleißig ein. Vielleicht verträgt der Pfälzer einfach mehr, weil er besser trainiert ist - eine Leber wächst schließlich mit ihren Aufgaben.
Möglicherweise können aber die Menschen in diesem uralten Weinanbaugebiet einfach besser mit dem Genuß des Rebensaftes umgehen, wissen eher, wann es genug ist. Vielleicht ist auch nur das Rote Kreuz besser organisiert und transportiert die lallenden Zecher schneller und diskreter ab als im Rheinland. Diesen Sachverhalt muss ich unbedingt erforschen. Aber das verschiebe ich auf das nächste Jahr. Dann gehe ich nämlich wieder hin. Vielleicht bringe ich mir ja auch ein Schoppenglas mit. Warum eigentlich nicht?
Und was für ein Spektakel dieser Umzug ist! Ich sehe darin Menschen, die eben erst das Laufen erlernt haben und solche, die gerade noch laufen können. Erwachsene, Kinder, würdige Greise und sogar Jugendliche beteiligen sich völlig selbstverständlich. Ich beobachte Tagelöhner, Tunten, transilvanische Vampire und teutonische Hühnen. Ich sehe Menschen in allen Hautfarben, von allen Kontinenten und Menschen, die in den Moden der letzten 15 Jahrhunderte kostümiert sind. Unglaublich! Als ich im Alter der gerade in einem wassergefüllten Bottich herumplanschenden Jungwinzer war, wäre ich schon bei der Nennung des Wortes "Brauchtumspflege" schreiend davongelaufen. Und hier wird das einfach gelebt. In einer Zeitschrift las ich vor kurzem, dass man die sprichwörtliche Heimatverbundenheit der Pfälzer am besten verstehen kann, wenn man auf eines der vielen traditionellen Feste geht. Erst jetzt begreife ich diese Aussage.
Was ich übrigens nicht sehe, sind Komabetrunkene wie sie bei den Karnevalsumzügen meiner rheinischen Heimat zu hunderten zu finden sind. Wenn ich es genau bedenke, sehe ich überhaupt nur einen Menschen, der wenigstens ansatzweise betrunken wirkt, und der kann dabei immerhin noch Einrad fahren. Merkwürdig. Eigentlich hatte ich entsprechende Exzesse erwartet, denn überall wird fröhlich gezecht. Viele bringen sich sogar ihre eigenen Gläser mit, und die Winzer schenken fleißig ein. Vielleicht verträgt der Pfälzer einfach mehr, weil er besser trainiert ist - eine Leber wächst schließlich mit ihren Aufgaben.
Möglicherweise können aber die Menschen in diesem uralten Weinanbaugebiet einfach besser mit dem Genuß des Rebensaftes umgehen, wissen eher, wann es genug ist. Vielleicht ist auch nur das Rote Kreuz besser organisiert und transportiert die lallenden Zecher schneller und diskreter ab als im Rheinland. Diesen Sachverhalt muss ich unbedingt erforschen. Aber das verschiebe ich auf das nächste Jahr. Dann gehe ich nämlich wieder hin. Vielleicht bringe ich mir ja auch ein Schoppenglas mit. Warum eigentlich nicht?