Montag, 31. Juli 2017

18. Der Verrat

Ich streife durch meine Wahlheimat und zwischen meinen Beinen gurgelt nicht markant und untertourig der V2. Es ist Sommer, es ist heiter bis wolkig, der warme Wind bläst durch meine Jacke und es geht mir gut. 
Moment mal! Was war das gerade? Der V2 gurgelt nicht? Aber womit bewege ich mich dann vorwärts? Was da zwischen meinen Beinen Geräusche macht ist etwas Anderes. Es surrt emsig wie eine Nähmaschine und ist kein V2-Motor aus Italien, sondern ein Boxermotor aus Bayern. "Guzzi mit Hängetitten" nennt ein lieber Freund von mir so etwas. Ich komme mir vor wie ein Verräter an meiner geliebten Italienerin. Ich möchte mich in die Ecke stellen und mich schämen. Und nicht eher zurückkommen, ehe ich mich richtig geschämt habe. 



Die Kleine Kalmit bei Ilbesheim ist mein Ziel. Südliche Weinstraße - wo sonst? Ich will mir ein Bild vom dortigen Naturschutzgebiet und mit der Kamera Fotos davon machen. Doch als ich in Leinsweiler von der Weinstraße abbiege, merke ich sofort: da stimmt etwas nicht! Merkwürdig viel Verkehr auf der Straße. Ilbesheim und Leinsweiler sind entzückende und leicht verschlafene Winzerdörfer. Da ist normalerweise nie viel Verkehr auf der Straße. Aber heute stehen links und rechts am Straßenrand Autos, als wäre Flohmarkt. "Ein Fest!" schießt es mir durch den Kopf. "Das kann nur ein Fest sein! Die feiern ja ständig Feste in der Pfalz!". Und tatsächlich sieht man auf der Kleinen Kalmit schon von weitem allerlei Zelte und überdachte Stände. "Na, die werden ja wohl nicht im Naturschutzgebiet feiern, also was juckt es mich?" denke ich, und fahre tapfer weiter. Doch nach und nach wird mir die Tragweite des Problems deutlich: Ich kann das Mopped nicht in der Nähe der Kleinen Kalmit abstellen. Es sind einfach keine Stellplätze mehr frei. Und selbst wenn: Ich müsste mir nach dem Abstellen des Moppeds erst einmal den Weg mit Kamerarucksack und daran hängendem Helm (das Mopped hat keine Koffer) durch vermutlich tausende feiernde Pfälzer kämpfen, bevor ich oben ankomme. Nöh! Das ist nicht mein Ding. Die Kleine Kalmit läuft mir ja nicht weg, die ist auch nächste Woche noch da. Zurück marsch, marsch!

Bleibt noch die Frage nach dem Mopped. Was ist passiert? Die Antwort ist erfrischend banal: "Irgendetwas mit der Zündspule:" hat der Mann mit dem gelben Auto vermutet. Und "Die Zündspule ist erst in KW 32 lieferbar." hat dann noch der Moppedschrauber meines Vertrauens einen draufgesetzt. Da er es einmal erwähnt hat, weiß ich: er hat mehrere Moppeds, die er gelegentlich auch an Kunden seiner Werkstatt verleiht. Da an der Guzzi auch schon im letzten Jahr in den großen Ferien pünktlich zur ersten größeren Ausfahrt ein wichtiges Teil abgeraucht ist, habe ich beschlossen, dass ich ein Ersatzmopped haben will. Ich möchte nicht schon wieder meine Sommerferien ohne Fahrzeug verbringen. Also allen Charme ausgepackt, Wimpernklimpern und "Bittebittebitte..." - hat geholfen. Er leiht mir eine! Hurra! Ferien mit Mopped! 


Ich plane spontan um und fahre einfach die südliche Weinstraße weiter entlang bis zum Weintor in Schweigen-Rechtenbach direkt an der französischen Grenze. Dort erfreue ich mich an der Aussicht vom Weintor in die Rheinebene und auf der anderen Seite bis nach Frankreich. Schön, dass die Grenze inzwischen so offen ist, dass man sie überhaupt nicht mehr bemerken würde, wenn Schilder nicht darauf hinweisen würden. Ich bin froh über jedes Land in Europa, in dem die Menschen diese Freizügigkeit genießen können. Denn das war auch schon anders. Mit Grausen erinnere ich mich noch an den Eisernen Vorhang, der einst Europa teilte und von einer Seite her gänzlich undurchdringlich war. Beim Gedanken an die vielen Kriege, die Europa einst erschüttert haben wird mir ganz mulmig. Wie jedesmal, wenn ich am Weintor bin, schaue ich mir deshalb zwei Details daran noch einmal genau an: Da wäre zunächst das riesige Relief eines Adlers auf einem Kranz aus Eichenlaub. Die Stelle, an der früher das Hakenkreuz prangte ist heute ein Trümmerfeld und Zeuge der gewaltsamen Entfernung dieses Symbols der Erbauer des Tors. Außerdem hat sich 1945 in einem der Sandsteinquader zu Füßen des Adlers ein offensichtlich aus Texas stammender G. I. in einem großflächigen Relief verewigt. Beides, Hakenkreuztrümmer und Texaskarte, erzählen etwas über unsere Geschichte. Ich finde es gut und richtig, dass bei bisherigen Instandsetzungsarbeiten darauf verzichtet wurde, diese Spuren zu beseitigen. Wer seine Geschichte vergisst, kann für seine Zukunft nichts daraus lernen. Ich kaufe noch eine Flasche Rieslingsekt. Schließlich bin ich hier als Tourist unterwegs und das soll man auch merken. Der Sekt stammt aus Niederkirchen, keine zehn Kilometer von Neustadt entfernt. Na, dafür hätte ich ja nicht so weit fahren müssen. Ich mache mich bei deutlich wolkenverhangenem Himmel auf den Rückweg.

"Am besten nimmst du bei deiner Größe die GS." Sagt der Moppedschrauber meines Vertrauens und zeigt auf ein blau-weißes Riesending mit Rädern. Meine Italienerin kommt ja mit der Eleganz eines zweirädrigen Autoscooters daher. Aber dieses Teil erinnert eher an ein Insekt. Vielleicht eine Gottesanbeterin oder eher noch an eine Libelle. Der riesige Tank könnte die gewaltige Flugmuskulatur aufnehmen, die notwendig wäre, um dieses Tier in die Lüfte zu erheben. Als hätte er meine Gedanken gelesen wiegelt der beste Mechaniker der Welt ab: "Keine Sorge! Die fährt sich wie ein Fahrrad. Setz' dich einfach vorurteilsfrei drauf und fahr' los." Vorurteilsfrei? Als hätte ich Vorurteile gegen die Bayern! Allenfalls gegen ihre Sprache. Aber auf keinen Fall gegen ihre Moppeds. Ist halt nur alles so anders.

Was ist eigentlich anders? Nun, meine Italienerin würde ich eher als Cruiser beschreiben. Das hier ist eindeutig eine Enduro, und zwar eine sehr, sehr große. Die Motoren sind von ihren Eckdaten her ähnlich: Der Hubraum aus Bayern ist gerade mal zweieinhalb Schnapsgläser größer als der aus Italien. Das macht summasummarum neun Pferde mehr. Nicht die Welt. Allerdings spielen auch noch andere Faktoren eine Rolle. Das Getriebe ist anders abgestimmt und die Enduro ist einen ganzen Zentner leichter als mein Cruiser. Die Sitzbank ist stark nach unten gebogen, so rutscht man als Fahrer nach dem Besteigen dieses Riesendings mit Gesäß und Gemächt in eine Art Kuhle, die einen von vorne und hinten sanft festhält. Das kann man mögen oder auch nicht, aber nötig ist es. Um es in einem Satz zusammenzufassen: Das Teil geht ab wie die wilde Sau! Dabei schnurrt der Boxermotor wie ein Kätzchen. Die Laufruhe des Zweizylinders irritiert mich etwas. Es fehlt das Pöttern und Gurgeln, das Hämmern und Schlagen. Das muss kesseln! Aber andererseits: Das Ding geht ab wie die Luzie. Ich kann mich bei meiner Italienerin bestimmt nicht über mangelndes Temperament beklagen, aber das hier ist noch einmal eine andere Größenordnung. Holla, die Waldfee!

In Eschbach spüre ich ein paar Regentropfen auf der Haut. Zeit, irgendwo einen Happen zu essen. Ich kehre in einer der zahlreichen Weinstuben ein, die irgendein Winzer nebenbei betreibt. Es stehen pfalztypisch überwiegend recht fleischlastige Gerichte auf der Karte. Da ich weder Säugetiere noch Vögel esse, habe ich über die Jahrzehnte gelernt, diesen Teil einer Speisekarte einfach auszublenden. Dadurch wird die Karte viel übersichtlicher und ich kann in der Regel kurz nach dem Aufklappen dem Kellner schon meine Bestellung aufgeben. Ich entscheide mich für zwei Vorspeisen: Weinbergschnecken und Handkäse mit Musik. Einfach, gut und lecker. Auch ich bin in der Pfalz bisher immer satt geworden. Habe schließlich nicht umsonst Übergewicht.

Auf dem Heimweg fange ich mir immer wieder ein paar Tropfen ein, werde aber nicht wirklich nass. Über der Weinstraße hängt eine dramatisch wirkende, dunkelgraue Wolkendecke. Nur an einer Stelle blitzt der blaue Himmel durch, und zwar genau über der Maxburg, besser bekannt als das "Hambacher Schloß". Ein schönes Symbol am Ende einer gelungenen Ausfahrt über meine geliebte Weinstraße. Vielleicht fahre ich morgen noch einmal über die schönsten fünfzehn Kilometer der Welt.