Im September 2008 wollte ich hier das Domgebirge fotografieren und ein Tourist ging mir dabei auf die Nerven. Aus dem Bedürfnis heraus, die Geschichte des daraus resultierenden Bildes zu erzählen, entstand damals dieser Blog mit meinen kleinen mürrischen Geschichten. Mannomann! Wie die Zeit vergeht!
Und natürlich hat sich in diesen zehn Jahren die Welt gewaltig verändert: Die USA hatten ihren ersten dunkelhäutigen Präsidenten. In Russland regierte schon seit vielen Jahren Wladimir Putin. Kriege wurden beendet und neue Kriege begonnen. Diktatoren zum Teufel gejagt und Oligarchen haben sich ins Ausland abgesetzt. Die beiden jungen Frauen von Pussy Riot gingen für mehrere Jahre ins Arbeitslager und kamen wieder heraus. Multinationale Konzerne haben in mehrstelliger Milliardenhöhe Steuern "vermieden" und Wahlen wurden manipuliert, von wem weiß man noch nicht so genau. In den USA ist inzwischen der Mann mit dem Eichhörnchen auf dem Kopf Präsident. In Russland immer noch Putin. Das scheint die einzige Konstante zu sein. In Deutschland gewinnen sogenannte "besorgte Bürger" an Einfluss. Ein Rechtsruck geht durch die Gesellschaft, wie ich ihn noch vor wenigen Jahren für völlig unmöglich gehalten hätte. Aber Deutschland ist damit nicht allein. Auf der ganzen Welt machen sich Nationalismus und Rassismus breit, als habe es die 70er Jahre nie gegeben. Zur Zeit lese ich ein interessantes Buch über dieses Phänomen, was ich an anderer Stelle zu gegebener Zeit besprechen werde. Immerhin war Kim Jong-un, seit Jahren mein persönlicher "sexiest man alive", gestern auf Staatsbesuch in Peking. In einem gepanzerten Zug. Das finde ich nun wirklich cool. Also den gepanzerten Zug. Nicht den dicken Mann mit den Atomwaffen.
Ich setze mich ins "Café Hindenburg". Hier gibt es den besten Espresso nördlich der Alpen. Und falls du, lieber Hubert, das jemals lesen solltest: Der ist wirklich ausgezeichnet! Nicht nur in Eichstätt gibt es guten, italienischen Kaffee. Und die Geschichte dahinter wird dich, mein Freund in deiner Eigenschaft als Historiker, besonders interessieren: Als der später im Dom zu Speyer bestattete Heinrich IV. von seinem Gang nach Canossa im Jahr 1077 zurückkehrte, brachte er einen arabischen Sklaven aus Italien mit ins Rheinland, der sich hervorragend auf die Zubereitung eines in seiner Heimat sehr beliebten Getränks namens "qahwa" verstand. Heinrich liebte es wegen seiner anregenden und, in größeren Dosen genossen, auch leicht euphorisierenden Wirkung. Dieser Sklave, sein Name ist nicht überliefert, wurde von Heinrich schließlich aus Dankbarkeit in die Freiheit entlassen und mit einem stattlichen Sümmchen ausgestattet. Er ließ sich in Speyer nieder und gründete 1084 das erste Kaffeehaus Deutschlands. Das "Hindenburg" versteht sich als Teil dieser langen Tradition und deshalb gibt es hier den besten Espresso nördlich der Alpen. Der in Eichstätt ist natürlich auch ganz gut, denn da wurden die ersten Bohnen vom Archaeopteryx höchstpersönlich eingeflogen. In der Jurazeit. Vor 150 Millionen Jahren.
Noch einmal zurück zu den besorgten Bürgern. Ich versuche, ihre Sorgen ernst zu nehmen und zu verstehen. Ich schaue mich um, und sehe tatsächlich viele Menschen, die irgendwie fremd aussehen. Ein junger Mann mit dunklem Teint fällt mir auf. Sein Haupthaar ist an den Seiten und im Nacken modisch superkurz und oben etwas länger. ("Undercut" nennt man das, glaube ich.) Er trägt einen dichten Vollbart. Jeans, Parka, Smartphone - soweit ich das beurteilen kann: kein billiges. Ein alleinreisender syrischer Flüchtling? Taliban oder doch nur Hipster? Als er näher kommt kann ich ihn in sein Handy sprechen hören: Er babbelt lupenreines Pfälzisch. Diese Frage wäre dann also geklärt. Aber jetzt mal im Ernst: Laufen wir Gefahr, durch Fremde überrannt zu werden? Werden wir "umgevolkt"? (Diese Vokabel habe ich tatsächlich irgendwo gelesen!) Was ist ein "Volk" überhaupt? Die Wikipedia bietet ein Füllhorn an verschiedenen Definitionen, die uns aber meines Erachtens nicht weiterbringen.
Nehmen wir doch einfach einmal ein praktisches Beispiel: Das deutsche Volk, insbesondere das am Rhein, wo wir schon einmal hier sind. Hier waren zunächst irgendwelche Leute, deren Namen wir nicht kennen, die aber Spuren hinterlassen haben.
Zum Beispiel den Gollenstein bei Blieskastel. Das liegt zwar nicht am Rhein, ist aber trotzdem ein gutes Beispiel, denn es liegt mitten in Deutschland und ich habe zufällig gerade ein schönes Bild von dem Menhir zur Hand. Dieses Artefakt ist über 4000 Jahre alt und ist präkeltisch. Hat ziemlich lange gehalten, bis die Nazis es umgeworfen haben und es dabei zerbrach. Halten wir fest: Schon vor den Kelten gab es hier Leute, die so etwas zustande gebracht haben.
Dann kamen die Kelten. Und wie das so ist, wenn Leute irgendwo einwandern: Man beäugt sich zunächst, möglicherweise skeptisch. Aber irgendwann geht man vorurteilsfrei miteinander um. Und irgendwann vermischen sich die Leute. Und das ist auch gut so. Durch das Vermischen von genetischem Material entstehen widerstandsfähigere Individuen. So war das schon immer. Auch unsere aus Afrika eingewanderten Homo-sapiens-Vorfahren in Europa haben sich mit den schon anwesenden Neandertalern (ursprünglich auch aus Afrika eingewandert - findet euch damit ab, ihr Rassisten: Wir sind alle Afrikaner!) vermischt, das ist mit modernen gentechnischen Methoden zweifelsfrei belegt worden. So wird man zum Beispiel gegen mehr Krankheiten immun. Vielleicht auch mit neuen Fähigkeiten ausgestattet. Der eingewanderte Kelte kennt vielleicht ein paar Tricks beim Ackerbau, die der präkeltischen Zivilisation noch nicht bekannt waren. Und so weiter, und so weiter.
Deutsche gab es damals noch gar nicht. Dann wanderten verschiedene germanische Stämme ein. Ein ziemlich kleiner davon, die Alemannen, war dann der Namensgeber für uns. Zumindest in der romanischen Welt. Halten wir fest, was bisher geschah: Mischung aus präkeltischer Bevölkerung und Kelten vermischt sich mit verschiedenen Stämmen, die wir heute als Germanen bezeichnen.
Dann kamen die Römer.
Man muss kein Historiker sein um zu wissen, dass man im Rheinland nur den Finger in die Erde zu stecken braucht, um sofort auf ein römisches Artefakt zu stoßen. In Köln fürchten Bauherren nichts mehr als den Tag, an dem die Baugrube ausgehoben wird. Es könnte ja sein, dass sich ein wertvolles römisches Artefakt findet, das dann archäologisch verarztet werden muss und den Bau um Monate oder gar Jahre verzögert bis einem die Finanzierung gepflegt um die Ohren fliegt. Die Römer haben sich hier wirklich eine ganze Weile gehalten. Und mit "Römer" meine ich jetzt nicht die Einwohner Roms. Im römischen Reich war es üblich, in den eroberten Gebieten Hilfstruppen anzuwerben, die dann in jeweils anderen Teilen des Reichs eingesetzt wurden. Anders hätte man den Laden auch nicht in Betrieb halten können. Was bedeutet das? In Spanien angeworbene Hilfstruppen wurden zu Beispiel in Palästina eingesetzt. Die aus Palästina in Nordafrika, und die aus Nordafrika in Germanien und so weiter. Die Veteranen bekamen nach einer gewissen Zeit im Dienst (20 Jahre, wenn mich nicht alles täuscht) ein Stück Land zugesprochen und trugen als Gutsherren zur Lebensmittelversorgung der Truppen und der Bevölkerung in den Provinzen bei.
Und was machen Leute, die mehrere hundert Jahre zusammenleben? Na was wohl? Ein Veteran der römischen Armee war im günstigsten Fall noch nicht einmal 40 Jahre alt. Wenn er 20 Jahre im Dienst der Legion überlebt hat, dann vermutlich unversehrt oder zumindest nur leicht beschädigt. Was ist ein gesunder Mann, wohlhabend und weltoffen, für ein Mädchen irgendwo in der germanischen Provinz? Richtig: eine gute Partie! Vernunftehe nennt man so etwas. Vielleicht hat er auch geglänzt mit Bildung und Humor. Schließlich war er geprägt von einer Hochkultur. Vielleicht war Liebe im Spiel und nicht nur schnödes Kalkül.
Aber das Ergebnis liegt auf der Hand: Bevölkerungsgruppen vermischen sich. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ich bin es leid, das jetzt in jedem Einzelfall mit historischen Tatsachen zu unterfüttern. Deshalb zitiere ich hier einfach nur Carl Zuckmayer:
"Vom Rhein. Von der großen Völkermühle. Von der Kelter Europas!
Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. – Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt – und – und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald, und – ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Vom Rhein – das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse. Seien Sie stolz darauf!"
(aus "Des Teufels General")
Was ich damit sagen will ist ganz einfach: Es gibt kein "deutsches Volk". Deshalb kann man uns auch nicht "umvolken". Wir sind eine Treppenhausmischung der Geschichte. Und das ist auch gut so. Ich bin stolz darauf, dass in mir genetisches Material aus vielen Gegenden der Welt vereinigt ist. Welches genau werde ich hoffentlich bald erfahren, denn mein scheidender Biologie-LK hat mir ein tolles Abschiedsgeschenk gemacht. Ich wäre enttäuscht, wenn ich nicht wenigstens zwei Kontinente in mir repräsentiert fände. Lieber noch drei.
Sehr nachdenklich mache ich mich wieder auf den Heimweg.
Und wieder einmal finde ich für die bezaubernden Weinprinzessinnen und Gebietsweinköniginnen, die mich von den Plakaten an jedem Ortseingang in der Pfalz anlächeln, keinen Platz in der Geschichte. Wie schade. Ich hatte mich so darauf gefreut, sie endlich einmal in den Blog einzubauen. Ach was soll's? Ich mach' das jetzt einfach.
Manche sehen so jung aus, dass ich mich ernsthaft frage ob sie, bei strenger Beachtung des Jugendschutzgesetzes, überhaupt schon in der Öffentlichkeit Wein trinken dürfen. Einige sind so entzückend anzuschauen, dass es mich in verkehrsgefährdender Weise vom Straßenverkehr ablenkt. Andere eher nicht. Ja, Beate, ich weiß! Das ist sexistisch. Aber wenn du solche Bemerkungen über George Clooney raushauen darfst, dann darf ich auch unsere Weinhoheiten toll finden und mich öffentlich dazu bekennen.
Und ja: Die ganze Geschichte um den Espresso, den in Speyer und den in Eichstätt, ist völlig frei erfunden.
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