Montag, 10. Oktober 2011

12. Der Tod des Apfelmanns

Ich streife durch meine Gegend und lande schließlich im prächtigen Kopfbahnhof von Frankfurt am Main. Frankfurt ist für ein Landei wie mich schon eine ziemliche Metropole. Groß, unübersichtlich und laut kommt sie mir vor, diese Stadt. Überall liegt Dreck herum, Penner und Punks schnorren, ständig habe ich Paranoia, dass mir jemand das Portemonnaie aus der Tasche zieht. Wenn man den Bahnhof verlässt, ist man zudem auch noch sofort im Rotlichtbezirk. Da fühle ich mich überhaupt nicht wohl, denn da riecht es nach "hoffentlich sieht mich keiner"-Angstschweiß und nach Menschenhandel.
Aber es ist wie es ist: alle paar Monate zieht es den kleinen Adolf in die große Stadt, ab und zu muss er einfach weg von der guten Landluft und rein ins Getümmel. Und da kommt die räumliche Nähe Neustadts zur Bankenstadt sehr gelegen: ab in den Zug, einmal umsteigen und schon bin ich da. Ich habe eigentlich keine konkreten Pläne. Schauen, was los ist und was man Unternehmen kann, evtl. noch bei Manufaktum ein lange begehrtes Lineal aus Metall kaufen. Einen USB-Hub für meine Backup-Laufwerke brauche ich auch noch. Den bekommt man im Laden mit dem angebissenen Apfel. Den ganzen Krempel hätte ich natürlich auch von Zuhause aus bestellen können. Das wäre mit Sicherheit günstiger gewesen als die Zugfahrt. Aber was soll's: Es sind Ferien, und man kann ja nicht den ganzen Tag in der Bude hocken.


Beim Betreten der Innenstadt habe ich "Super Heavy" auf den Ohren. Das ist Multikulti-Reggae mit Superstar-Besetzung. Ein angemessener, entspannender Soundtrack für diesen Kultur-Schmelztiegel - den deutschen „Big Apple“ sozusagen. Während ich noch darüber nachdenke, ob nun Joss Stone oder Mick Jagger den knackigeren Hintern hat, legt neben mir an der Fußgängerampel eine Comicfigur an. Eine riesige, gertenschlanke Asiatin wächst zu meiner Linken dem Himmel entgegen. Sie ist ausschließlich in Schwarz und farbenfrohem Dunkelgrau gekleidet. Ihre pechschwarzen, endlos langen Haare treffen sich irgendwo an ihrer Körpermitte mit den ebenfalls beeindruckend langen Beinen. Von hinten scheint sie somit nur aus Haaren und Beinen zu bestehen. In der rechten Hand hält sie lässig und elegant ein iPad. Schon trippelt sie auf gesundheitsschädlich hoch anmutenden Absätzen weiter und lässt mich derart verblüfft stehen, dass ich glatt die Grünphase der Ampel verschlafe während ich ihr mit offenem Mund hinterherglotze. Wer jemals einen Comic des französischen Autoren mit dem Künstlernamen Möbius gelesen oder seine Entwürfe in dem Film „Das fünfte Element“ bewundert hat, kann vielleicht nachvollziehen, in welche Welt ich mich entführt glaubte.


Angeregt durch die Möbiuserscheinung wechsle ich die Musik: Simon Rattle dirigiert John Adams "Short Ride in a Fast Machine". Klassische amerikanische Minimalmusic passt vielleicht doch besser zu dem Gewimmel um mich herum und auch zu den hohen Häusern. Das iPad der Comicikone bringt mich auf die Idee, die Apfeldichte auf meinem Weg zum Apple-Store zu erfassen. Ich zähle also iPhones, iPads und weiße Kopfhörer. Das Ergebnis dieser spontanen statistischen Erhebung ist verblüffend: Jedes zweite in der Frankfurter Innenstadt gesichtete Telefon ist eines mit einem angebissenen Apfel. Fast alle gesichteten Kopfhörer sind weiß. Das ist mir unheimlich. Sieht ein Wenig nach totaler Kontrolle durch den Apfelkonzern aus. Nur gut, dass man mit den Ohrstöpseln und mit den Telefonen keine Gehirnwellen beeinflussen kann. Hoffentlich!


Am Apple-Store angekommen fällt mir sofort der improvisierte, kleine Altar links neben dem Eingang ins Auge. Viele Apfelfreunde haben hier unter einem Foto des kürzlich verstorbenen Steve Jobs Blumen abgelegt und angebissene Äpfel. Sie haben auch kleine Zettel an die Schaufensterscheibe des Geschäfts geklebt mit persönlichen Gedanken zum Tod des Apple-Gründers. In der Tat hat das Ende des Apfelmanns letzte Woche, obwohl lange erwartet, ziemliche Bestürzung ausgelöst. Und das nicht nur unter seinen Fans. Alle Nachrichten und die Titelseiten der Tageszeitungen waren voll mit Artikeln zu diesem Thema. Der Spiegel zeigte ein schönes Bild des Firmenchefs aus besseren Tagen mit der Überschrift: „Steve Jobs - Der Mann, der die Zukunft erfand“. Obwohl mich das Ereignis selbst nicht unbewegt gelassen hat, finde ich derlei Pathos doch etwas übertrieben. Er war nicht mehr und nicht weniger als ein ziemlich guter Verkäufer, der die Bedürfnisse seiner Kunden und die Funktionalität und Schönheit seiner Produkte sehr ernst genommen hat. Trotzdem rührt mich der kleine Altar derart an, dass ich beschließe, beim Verlassen des Ladens ebenfalls einen angebissenen Apfel zu hinterlassen. Man weiß ja nie, ob es nicht doch gut für das Karma ist. Doch zunächst gehe ich erst einmal hinein, ich brauche ja noch einen USB-Hub.

Im Laden ist es wie immer: Schicke Geräte auf minimalistischen Regalen und Tischen drapiert. Aha! Meine Musik passt also immer noch. Diensteifrige und freundliche Verkäufer in blauen T-Shirts mit weißem Apfellogo wuseln zwischen den Kunden herum und versuchen, ihnen zu helfen. Man nimmt ihnen ab, dass sie an ihrer Arbeit Freude haben. Über eine gläserne Wendeltreppe geht es in den ersten Stock zum Zubehör. Und mit „gläserne Treppe“ meine ich nicht: „Treppe mit gläsernem Geländer“. Das Ding ist wirklich aus Glas, und zwar vollständig. Ich glaube irgendwo gelesen zu haben, dass Apple oder sogar der verstorbene Steve Jobs höchstpersönlich, ein Patent auf diese Treppe hält. Irre! Beim Zubehör habe ich eine Frage. Der Verkäufer bemüht zunächst einen Kollegen und ergoogelt schließlich die Antwort ratzfatz. Nicht, dass ich das nicht selbst gekonnt hätte, aber so ist es schöner. Eine Kasse gibt es scheinbar nicht. Ich erkundige mich bei einer Verkäuferin, die scannt sofort mit einem leicht pummelig aussehenden iPhone den Barcode meines Kartons und schiebt meine Plastikgeldkarte in ein bis dahin unauffällig deponiertes Lesegerät. Prompt kommt aus einem kleinen, fast unsichtbaren Schlitz in der Wandverkleidung die Quittung. Die Rechnung gibt es per Email und das war‘s auch schon.


Beim Verlassen das Apple-Stores beobachte ich noch eine Dame, die mit süßsäuerliche Miene die angebissenen Äpfel aus dem improvisierten Altar klaubt. Sie gibt zu erkennen, dass sie von der Trauer der Kunden ebenfalls gerührt ist, möchte aber keine Ungezieferplage riskieren. Es käme mir nun gemein vor, noch einen dazu zu legen. Also schlendere ich, aus vollen Backen meinen Apfel kauend, in Richtung des Manufaktum-Geschäfts. Angesichts des emsigen Großstadttreibens und der dicht an dicht stehenden Hochhäuser habe ich inzwischen auf den Soundtrack des Films Matrix umgeschaltet. Der passt auch prima zu den vielen Herren in dungelgrauen und schwarzen Anzügen. Irgendwie erwarte ich die ganze Zeit, dass aus der Menge die Frau mit dem roten Kleid auftaucht. Doch sie kommt nicht.


Stattdessen erscheint irgendwo hinter der Alten Oper der Manufaktum-Laden: Konsumlustschloss für Oberstudienräte, Tempel der Dinge, die niemand wirklich braucht, die man aber trotzdem unbedingt haben möchte. Das harmoniert dann wieder gut mit der Marke des angebissenen Apfels. Ein Glück, dass ich kein Oberstudienrat bin. Das macht mich vermutlich immun. Das Lineal ist rasch gefunden, aber es überkommt mich die Lust, durch die Regale zu streifen und zu schauen. Das ist ein Fehler! Letzten Endes verlasse ich das Geschäft um mehrere, wie außerirdische Parasiten in mein Gehirn gepflanzte Konsumwünsche reicher und um etliche Euronen ärmer. Zugegeben: neben dem schönen Lineal ist noch ein wunderbarer Kopfhörer herausgesprungen.


Auf dem Rückweg zum Bahnhof bemerke ich, dass der Akku meines Apfelfons inzwischen kaum noch Energie enthält. Da ich das Ding aber für die Fahrplansuche und für Emails unterwegs noch zu brauchen glaube, verzichte ich notgedrungen auf Musik. Nur dieser Tatsache ist es zu verdanken, dass mir in einem kleinen Park ein Bettelmusikant auffällt, der auf seiner Geige erstaunlich präzise und doch gefühlvoll Mozart interpretiert. Ich höre also auf, nach der Frau im roten Kleid Ausschau zu halten, lausche dem Geiger und werfe ihm ein paar Münzen in den Geigenkoffer. Er bedankt sich, ich antworte höflich: Ich habe zu danken!“ und verabschiede mich. In Zukunft werde ich wohl öfter mal mit offenen Ohren durch die Gegend laufen und sicher auch wieder mehr Äpfel essen.