Mittwoch, 18. Juli 2018

26. Die Schlussfolgerung

Ich streife durch die Straßen meiner Gegend. Heute bin ich im Elmsteiner Tal unterwegs. Das ist ein Seitental des Lambrechter Tals und somit noch etwas abgelegener und verträumter. Ich staune trotzdem darüber, wie viel Gewerbe und Industrie hier ansässig ist: alle Arten von Holzverarbeitung und eine große Spedition sehe ich, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Früher wurde im Tal auch lebhaft mit Schuhen gehandelt. So gab es in Elmstein ein riesiges Schuhgeschäft. Viel zu groß für ein kleines Örtchen wie Elmstein. Doch heute steht das Ladenlokal leer. Seit in der Gegend keine Schuhe mehr produziert werden, kann man sie hier auch nicht mehr günstiger anbieten als anderswo.

Das Leihmopped habe ich an anderer Stelle bereits vorgestellt.
Man beachte den Kaisermantel, der sich den
rechten Zylinder des Motors ganz genau anschaut.
Mir ist das piepenhagen, denn ich hab‘s nicht so mit Schuhen. Der Boxer schnurrt emsig und vertraut, obwohl es nicht mein Boxer ist. Der ist in der Inspektion. Seit ich ihn im letzten Herbst erworben habe, hat der auch schon mehr als 8000km runter. Heute fahre ich das Leihmopped vom besten Mechaniker der Welt. Das kennt ihr ja bereits. Das ist das Mopped, das mich vor einem Jahr zum Verrat an meiner Italienerin verführt hat. Deshalb bin ich auch nur mit kleinem Gepäck unterwegs, denn das Leihmopped hat keine Koffer. Ich will mir eine schöne Wiese suchen und dort Insekten fotografieren. Kamera mit Makrolinse und Blitz kann man noch gut mit einem Rucksack transportieren. Bei der Teletröte für die Vogelbilder sieht das schon anders aus. Die möchte ich nicht den ganzen Tag auf dem Rücken herumtragen.

Außerdem ist da ja noch das „Nebenthema“ der letzten drei Folgen dieses Blogs: Insektensterben. Sie hatte wohl gehofft, dass ich das vergessen habe, nicht wahr? Bislang ist immer noch die Frage offen, was wir, also Sie und ich, dagegen unternehmen können. Ich will mich hier nicht als Fachmann aufspielen. Aber immerhin bin ich ausgebildeter Geograph und Biologe. Das Thema meiner ersten Staatsarbeit war die Schädlingsbekämpfung, deshalb habe ich mich über ein halbes Jahr lang sehr intensiv mit den Lebensbedingungen von Insekten sowie mit der Wirkungsweise von Insektiziden beschäftigt. Ich gebe zu, dass ich schon lange keine Universität mehr von innen gesehen habe, vermutlich sind meine Kenntnisse deshalb nicht in jedem Bereich auf dem neuesten Stand. Aber sie sind da. Ich kann beobachten und ich kann fundierte Schlussfolgerungen ziehen die ich auf Nachfrage auch gerne begründe:

Ich sehe drei Bereiche, in denen dringender Handlungsbedarf besteht: Landwirtschaft, kommunale und regionale Planung und schließlich die Ebene der Privathaushalte. Meine Schlußfolgerungen erheben nicht den Anspruch, wissenschaftlich untermauert zu sein. Ich lasse mich an dieser Stelle auch gerne auf Diskussionen ein und mich gegebenenfalls auch gerne von Fachleuten eines Besseren belehren. Nutzen Sie dafür die Kommentarfunktion des Blogs. Aber bitte ersparen Sie mir Stammtischparolen.

Im Stillen Tal ist es nicht ohne Grund still.
Ich prangere das an!
Kurz hinter Helmbach biege ich ab Richtung Iggelbach. Ein Schild warnt vor Steinschlag, und tatsächlich sehe ich bald darauf einen Sandsteinbrocken auf der schmalen Straße liegen. Schließlich mache ich noch einen Abstecher in Richtung eines Ortes mit dem bezaubernden Namen Hornesselwiese. Ein Ort mit diesem Namen kann nur idyllisch sein. Außerdem kann man von dort aus noch weiterfahren: Das „Stille Tal“ lockt. Dort gibt es eine schöne Blumenwiese. Das weiß ich, denn ich war letzte Woche schon einmal hier. Neben der Blumenwiese plätschert ein Bach, der direkt neben einem Ausflugslokal zu einem kleinen Weiher aufgestaut wird. Deshalb gibt es hier, neben zahlreichen Schmetterlings- und Wildbienenarten auch diverse Groß- und Kleinlibellen. Sogar eine bunt schillernde Prachtlibelle entdecke ich, wobei ich rückblickend nicht beschwören kann, dass sich meine Erinnerungen hier nicht vermischt haben mit denen, die ich beim Besuch an einem anderen Gewässer abgespeichert habe.

Neugierig umschwirren mich verschiedene fliegende Tiere. Allerdings...
Gierig ist hier sicher der treffendere Ausdruck. Einfach nur gierig, ohne „neu“. Ganz offensichtlich handelt es sich hier um solche Fluginsekten, die es weniger auf goldenen Nektar abgesehen haben als vielmehr auf rotes Blut. Auf mein Blut. Von allen Seiten fallen Sie über mich her. Zunächst nur an frei liegenden Hautpartien an Gesicht, Hals und Armen, bald spüre ich aber ihre Stiche auch an Stellen, die eigentlich von Stoff bedeckt sind. Es ist wie in einem Horrorfilm. Während ich eilig die Flucht ergreife, kommt mir eine Idee zur Namensgebung des „Stillen Tals“. Vermutlich ist es deshalb so still hier, weil es unter dem Regiment der blutrünstigen Kerbtiere niemand lange aushält. Ein paar Forellen, in den Weiher des Tals eingesetzt, könnten in diesem Zusammenhang Wunder bewirken. Vielleicht habe ich heute morgen auch einfach nur das falsche Duschgel benutzt.

Beginnen wir mit der Landwirtschaft. Und ja! Mir ist durchaus klar, dass Landwirte unter hohem Erfolgsdruck stehen. Dass allerlei Sachzwänge auf Landwirte einwirken und ihren Handlungsspielraum einengen. Deshalb können nur die Landwirte selbst entscheiden, welcher meiner Vorschläge überhaupt realisiert werden kann.
  1. Informieren Sie sich über Prinzipien biologischen Landbaus. Lassen Sie sich von entsprechenden Fachleuten beraten oder lesen Sie Bücher zum Thema, zum Beispiel die von Heinz Erven, einem Pionier des ökologischen Landbaus.
  2. Wenden Sie so viele Prinzipien des ökologischen Landbaus an, wie es Ihnen möglich ist oder stellen Sie ganz auf biologische Landwirtschaft um. Sorry, aber alles Andere ist mit Spatzen auf Kanonen geschossen.
  3. Nehmen Sie am Ackerrandstreifenprogramm Teil. In einigen Bundesländern erhalten Sie dafür Ausgleichszahlungen für entgangene Ernteerträge. Außerdem werden Sie auf den verbleibenden Flächen bald weniger Pestizide einsetzen müssen, weil sich auf Ackerrandstreifen natürliche Gegenspieler der Pflanzenschädlinge entwickeln. 
  4. Wenn möglich, lassen Sie Vielfalt zu. Manche Gemüsepflanze schreckt die Schädlinge anderer Gemüsesorten ab. Jede Pflanzenart benötigt andere Mineralien, durch Vielfalt erhalten Sie langfristig auch die Bodenfruchtbarkeit. Auch zu dieser Methode gibt es Literatur und Fachleute, die Sie sicher gerne beraten. Nutzen Sie diese Möglichkeiten. 
  5. Wenn möglich erhalten Sie Hecken oder schaffen sogar neue davon. Und ich meine hier keineswegs kubisch frisierte Buchsbaumhecken - im biologischen Sinn ist das keine Hecke, sondern überflüssig. Ich meine die Hecken, die es in der guten, alten Zeit immer zwischen benachbarten Äckern gegeben hat, auf Lesesteinwällen oder ungünstig geschnittenen Grundstücksteilen auf natürliche Art und Weise von selbst entstanden und dann bei diversen Flurbereinigungen verloren gegangen sind. Solche Hecken schaffen nicht nur einen ausgezeichneten Schutz gegen Winderosion, sie beherbergen auch zahlreiche Arten, die Sie im Kampf gegen Schädlinge unterstützen. Auch zu diesem Punkt kann man sich von Naturschutzverbänden beraten lassen. Fragen Sie gezielt nach dem Stichwort „Benjeshecke“. Das ist die mit Abstand günstigste Methode, eine Naturnahe Hecke anzulegen.
Das Wimmelgebüsch im Edenkobener Tal.
Ich steige wieder auf‘s Leihmopped und verlasse das Stille Tal. Iggelbach, von dort auf die B48 und über Johanniskreuz nach Speyerbrunn. In Mückenwiese halte ich trotz idyllischer Landschaft gar nicht erst an. Ich möchte nicht herausbekommen, woher der Ort seinen Namen hat. In Frankeneck biege ich wieder ab um über die Kalmit nach Maikammer zu fahren. Der von hier aus schönere Weg nach Edenkoben ist wegen Bauarbeiten gesperrt, deshalb muss ich kurz auf die Landstraße ausweichen. Und dann kommt meine neue Liebligsstrecke, die ich hier auch schon beschrieben habe: Das Edenkobener Tal hoch, und durch das Modenbachtal wieder herunter. Irgendwo an dieser Route liegt ein Parkplatz.

Das Tagpfauenauge wollte mir partout nicht seine Flügel
zeigen.
Vielleicht ist es auch ein Holzlagerplatz, denn er wird für beide Zwecke genutzt. Ein verwildertes Gestrüpp fällt mir auf: Disteln, Schafgarbe und alles mögliche andere Zeug blühen hier. Hier tummeln sich wieder Schmetterlinge, und zwar nicht zu knapp: Kaisermantel, Tagpfauenauge, Kohlweißling, Zitronenfalter und vieles mehr. Das kommt mir sehr gelegen und ich widme mich dem Sommerthema.

Führen wir das Nebenthema fort. Es entwickelt sich mehr und mehr zum Hauptthema.
Kommunale und regionale Verwaltung:
Auch hier ist mir durchaus bewusst, dass Raumplanung nicht nur eine Interessengruppe im Blick behalten darf. Mir ist ebenfalls klar, dass Ihnen durch Bundes- und Europarecht in vielen Fällen die Hände gebunden sind. Aber es sind ja auch nur Vorschläge, schauen Sie halt, welche Sie berücksichtigen können:
  1. Lassen Sie sich beraten von Fachleuten, die sich mit Ökologie und Stadtplanung auskennen. 
  2. Bepflanzen Sie ihre Städte mit so vielen Blütenpflanzen, Bäumen und Büschen wie möglich. Denken Sie dabei auch an Fassaden. Achten Sie bei der Auswahl darauf, dass es sich um einheimische Pflanzen handelt oder um solche, die von heimischen Insekten als Futterpflanzen angenommen werden. Regen Sie auch ihre Bürger dazu an. Straßenränder können mit Mischungen einheimischer Wiesenpflanzen begrünt werden. Das sieht viel besser aus als kurz geschorener Rasen und ist ökologisch viel wertvoller. Ziehen Sie bei der Bepflanzung von Grünanlagen auch essbare Pflanzen in Betracht. Die Stadt Andernach hat in diesem Zusammenhang gute Erfahrungen auf allen möglichen Ebenen gemacht.
  3. Berücksichtigen Sie Nistmöglichkeiten. Hilfreich ist zum Beispiel ein Komposthaufen in jeder städtischen Grünanlage oder auf dem Friedhof. Denkbar sind auch Insektenhotels sowie Vogelnistkästen. Oder einfach hie und da ein großes Stück Totholz. Muss ja niemand zu sehen bekommen.
  4. Bringen Sie Wasser in die Stadt: Bachläufe mit natürlicher oder naturnaher Uferbepflanzung statt betonierte Fließrinnen. Wenn Sie können lassen Sie dem Bach etwas mehr Platz, das ist aktiver Hochwasserschutz. Lassen Sie Tümpel und Teiche in Parkanlagen anlegen  - vergessen Sie aber bitte nicht die Fische, die die Mücklarven in Schach halten.
  5. Vermeiden Sie den Einsatz von Insektiziden. Wenn sich ein Schädling über Gebühr vermehrt, dann fehlt oft einfach nur ein natürlicher Feind. 
  6. Insektenhotel XXL, gesehen an der Weinstraße.
  7. Zerhächseln Sie Pflanzenschnitt nicht sofort. Bevorzugen Sie Mähtechniken, die möglichst vielen Kleintieren eine Chance gibt.
Die Straße durch Edenkoben ist immer noch gesperrt. Ich nehme in Rhodt die Straße nach Edesheim und biege hier in Richtung Großfischlingen ab. Durch ein paar kleine und überaus entzückende Weindörfer führt jetzt eine kleine Kreisstraße parallel zur Bundesstraße bis nach Kirrweiler. Über Maikammer komme ich jetzt wieder auf die gewohnte und geliebte Weinstraße.

Privatleute können auch etwas tun.
  1. Lassen Sie sich beraten bei ihrer Grundstücksbepflanzung. Die Experten der Naturschutzverbände tun das gerne und kostenlos. Achten auch Sie auf einheimische Pflanzen oder solche, die von heimischen Insekten als Futterpflanzen angenommen werden. Sommerflieder (auch Schmetterlingsflieder genannt - raten Sie, warum.) ist immer eine gute Idee. Der ist zwar aus Asien eingeschleppt, aber unsere heimischen Insekten können gar nicht genug davon bekommen. Nehmen Sie Sommerflieder. Sie werden Ihren Spaß haben.  
  2. Vermeiden Sie versiegelte Flächen. Wenn Sie unbedingt auf Ihren Vorgarten als Autostellplatz angewiesen sind, verwenden Sie sog. Rasengittersteine. Dann können Sie hier Ihr Auto abstellen und trotzdem noch eine Blumenwiese einsähen.
  3. Vermeiden Sie den Einsatz von Insektiziden. Wenn sich ein Schädling über Gebühr vermehrt, dann fehlt oft einfach nur ein natürlicher Feind.
  4. Zerhächseln Sie Pflanzenschnitt nicht sofort. Bevorzugen Sie Mähtechniken, die möglichst vielen Kleintieren eine Chance gibt.
  5. Meiden Sie kurz geschorenen Rasen. Lassen Sie Vielfalt zu und auch etwas Unordnung. Rasen ist ökologisch praktisch wertlos.
  6. Eine Benjeshecke kann man auch in einem Privatgarten anlegen. Auch ein selbst gebautes Insektenhotel macht viel Freude und ist ökologisch wertvoll. Nur die aus dem Baumarkt sind nicht so toll. Nicht selten ist das Holz behandelt, und das mögen Insekten gar nicht.
Diese Vorschläge erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ich behalte mir vor, die drei Listen jederzeit zu ändern und zu ergänzen. Wenn Sie in irgendeinem Punkt anderer Meinung sind, lasse ich mich gerne überzeugen. Mit Argumenten. Benutzen Sie gerne die Kommentarfunktion

Auch in Hambach versperrt mir eine Baustelle den direkten Heimweg. Macht nix. So komme ich noch einmal in den Wald. Hinauf! Hinauf auf‘s Schloß! Als ich in die Eichstraße einbiege spüre ich an meiner rechten Schulter einen Stich. Ich ertaste mit der linken Hand ein etwa zwei Millimeter dickes und einen Zentimeter langes Krabbeltier. Ohne zu zögern ziehe ich es aus meinem T-Shirt. "Du blödes, widerliches Mistvieh!" denke ich. "Wahrscheinlich sitzt du da schon seit zweieinhalb Stunden und freust dich kichernd darauf, zuzustechen." Ich unterziehe das Insekt einem Dimensionsdowngrade. Eben war es noch dreidimensional und im nächsten Augenblick hat es schon eine Dimension weniger. Wenn es um mein eigenes Blut geht verstehe ich keinen Spaß. Das brauche ich, bei aller Insektenliebe, selber, und zwar jeden Tropfen.


P.S.: Normalerweise flicke ich meine Geschichten aus den Erinnerungen an mehrere, manchmal zeitlich weit voneinander getrennten Ausflügen zusammen. Die eben beschriebene Tour bin ich aber genau so tatsächlich gefahren. Wer diese einmal ausprobieren möchte folge bitte diesem Link für eine Karte.

P.P.S.: Die Erlebnisse im Stillen Tal habe ich aus dramaturgischen Gründen schamlos aufgeblasen und völlig übertrieben dargestellt. Es ist wirklich sehr schön dort und bei nächster Gelegenheit werde ich auch das dortige Gasthaus einmal ausprobieren. Es genießt einen guten Ruf.

P.P.P.S.: Hier sammle ich ab jetzt Links zum Thema:
https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/insekten-und-spinnen/hautfluegler/hummeln/02636.html


Montag, 16. Juli 2018

25. Die zweite Exkursion zu den Bienenfressern

Ich streife durch meine Gegend und gehe schon wieder über den Feldweg neben dem Zwiebelfeld. Das Feld wurde inzwischen umgepflügt, dabei wurden auch ein paar von den Erntemaschinen nicht erfasste Zwiebeln zerquetscht. Deshalb riecht es hier immer noch sehr intensiv wie an der Salattheke in der Dönerbude. Beim Parken des Moppeds ist mir ein PKW mit vier Personen aufgefallen. Große Taschen haben sie aus dem Kofferraum des Autos geholt, nachdem sie ausgestiegen sind. Deshalb beeile ich mich, um vor ihnen zu dem Unterstand zu kommen, den der NaBu zur Vogelbeobachtung eingerichtet hat. Das sah mir alles verdächtig nach Birdwatching-Picknick aus. Da muss ich zusehen, dass ich noch einen Platz auf den schmalen Holzbänken bekomme.

Merops apiaster
Das Bild entstand zu einem späteren Zeitpunkt
 mit einem anderen als dem im Text beschriebenen Objektiv.
Die Gruppe aus dem Auto ist tatsächlich zum Birdwatching gekommen. Aber ganz anders, als ich mir das vorgestellt hatte. Hier wird nicht gepicknickt. Wir sind schließlich nicht zum Spaß hier. Alle haben dicke Kameras dabei, einer sogar eine professionelle Canon mit einem Teleobjektiv, das mich an ein mittleres Flugabwehrgeschütz erinnert. Das Objektiv hat eine Stoffhülle im Camouflage-Look, was die militärische Anmutung noch verstärkt. Es gibt schwere Stative und einen Bohnensack als Aufstützhilfe für die Canon.

Wo waren wir stehen geblieben beim Insektensterben? Sie hatten doch nicht etwa erwartet, dass ich mit dem Thema schon durch bin? Ach ja: Über die Zahlen hatten wir gesprochen und über die möglichen Folgen. Fehlen noch die Ursachen und die Frage danach, wie wir dem entgegenwirken können. Im Grunde kann man da nur raten, und das tun die Wissenschaftler auch. Aber da die Zeit drängt, können wir nicht auf wissenschaftlich belastbare Theorien warten. Wir müssen gegensteuern, und zwar auf allen Ebenen und möglichst sofort.

Um der Frage nach den Ursachen nachzugehen, habe ich in den letzten Tagen viel recherchiert und eigene, nicht repräsentative Nachforschungen angestellt. Ich habe gezielt ganz unterschiedliche mögliche Lebensräume für Insekten abgeklappert und die angetroffenen Arten gezählt. Feldränder, bepflanzte Verkehrsinseln und Parkplätze waren ebenso dabei wie eine Wiese in einem Seitental des Pfälzer Walds. Das war so weit abgelegen, dass ich schon fürchtete, vom Rand der Scheibe herunterzufallen wenn ich nicht aufpasse. Und ich muss sagen: Hier in der Pfalz scheint noch alles in Ordnung zu sein. Hier gibt es eine vielfältige Gliedfüsserfauna, teilweise mit aus wärmeren Gegenden eingewanderten Neozoen wie zum Beispiel der Gottesanbeterin oder der Wespenspinne.

die japanische Steingartenverkehrsinsel
(mit Mopped und Helm)
Verkehrsinsel als Wingert,
gesehen in Bad Bergzabern
Kaum, dass meine mit-Birdwatcher angekommen sind, verteilen sie sich flächendeckend in der kleinen Hütte. Wie man unschwer an der Sprachfärbung erkennen kann, handelt es sich um ein Rudel Exilrheinländer. Es wird überaus konzentriert fotografiert, und dabei kommen wir ins Gespräch. Das Exil ist irgendwo im Hessischen, und die Rheinländer kommen offensichtlich öfter her. Nur der Mann mit der Canon ist derart in seine Arbeit vertieft, dass es sich am Gespräch nicht beteiligt. Man hört nur das machinengewehrartige klickern seines Auslösers. Im Prinzip muss ich nicht mehr durch den Sucher schauen. Da ich heute wieder nur das alte 300er dabei habe, ich wollte ihm einfach noch mal eine Chance geben, ist mein Bildausschnitt relativ groß und die Vögel auf ihrer Sitzwarte immer im Bild, wenn ich Kamera und Objektiv in einer bestimmten Art und Weise aufstütze. Den Autofokus habe ich abgeschaltet und manuell auf die Sitzwarte der Tiere fokussiert. Ich muss jetzt nur noch abwarten, bis einer der Vögel den Zweig anfliegt und abdrücken, damit ich sie genau im richtigen Augenblick mit weit ausgestreckten Flügeln erwische. Im Grunde genommen muss ich auch nicht mehr beobachten. Ich muss nur in dem Augenblick den Auslöser drücken, wenn neben mir die Canon losknattert. Das führt zwar zu erstaunlich guten Ergebnissen, macht aber nicht so viel Spaß wie bei meinem letzten Besuch. Ich sitze also noch eine Weile im Weg herum, verabschiede mich dann und mache mich auf den Weg. Ich wollte hier in der Nähe noch bei einem Freund vorbeischauen und es dräut ein Gewitter. Also habe ich gleich mehrere gute Gründe, aufzubrechen. Ganz in der Nähe der Gerolsheimer Gruben fällt mir noch eine Verkehrsinsel auf, die wie ein japanischer Steingarten aussieht. Ohne blühende Pflanzen, aber mit Steinen in farbenfrohen Grautönen. Seltsam, welche Blüten die Verkehrsinselgestaltung in der Pfalz treibt: Kunstwerke habe ich schon gesehen. Kleine Biotope und einen kleinen Weinberg. Und jetzt ein Steingarten.

Er hat mich gesehen!
Als eine der Ursachen des Insektensterbens gilt der Mangel an adäquaten und hinreichend vernetzten Lebensräumen mit einheimischen Pflanzen. Tatsächlich sind japanische Steingärten zur Zeit sehr in Mode. Sie sehen schick aus und sind zudem Pflegeleicht. Aber eben keine geeignete Bienenweide. Allenfalls Loriots Steinlaus würde hier satt werden. Die Streuobstwiesen meiner Kindheit (Achtung! Gleich erzählt der Alte wieder vom Krieg!) wurden ersetzt durch maschinenkompatible Spalierobstpflanzungen. Und das macht eben den Unterschied aus zwischen ein paar zehntausend Blüten an einem ausgewachsenen Apfelbaum im Frühling und bestenfalls 100 an einem Spalierbäumchen. Die verwilderten Brachgrundstücke, auf denen meine Generation spielend noch große Teile der Kindheit verbracht hat, wurden ersetzt durch Spielplätze oder fielen der innerstädtischen Verdichtung zum Opfer. In den Vorgärten sieht man heute oft gepflasterte Parkplätze und die zwischen Äckern stehenden Hecken wurden bei der letzten Flurbereinigung beseitigt. Baugrundstücke wurden immer kleiner und so schrumpfte auch der Gartenanteil in den Wohngebieten. Flüsse wurden begradigt und ihre Betten befestigt. Es fehlt einfach an allem, was Insekten zum Leben benötigen.

Bei meinem Freund angekommen überreiche ich zwei Exemplare des Plakats, das ich aus dem Ensemblebild gebastelt habe. Da das Ensemble wirklich sehr groß war, konnte ich es kostengünstig im Vierfarbdruck vervielfältigen lassen. Trotzdem ist die Qualität des Drucks unglaublich hochwertig. Wir freuen uns sehr darüber. Wir sitzen noch eine Weile auf einer kleinen Terrasse und reden. Mein Freund will keinen großen Garten, das ist ihm viel zu viel Arbeit. Und tatsächlich ist die Terrasse sehr gemütlich. Der Boden ist mit Rindenmulch bedeckt, an den Rändern stehen Blumenkübel. In einem davon blüht sich gerade ein Lavendelgebüsch um den Verstand. Summend und brummend wird es von ganz unterschiedlichen Arten von Wildbienen umschwirrt. Das freut mich. Doch leider liegen unter dem Lavendel einige tote Bienen. Mein Freund weiß auch nicht, woran das liegt. Auf den benachbarten Pflanzen tummeln sich sogar, so sagt er, leider viel zu viele unerwünschte sechsbeinige Besucher, die ihm die Pflanzen schädigen. An einer prinzipiell insektenfeindlichen Umgebung könne es also nicht liegen.

In meinem Kopf knirscht es hörbar, aber zunächst kann ich dieses Knirschen nicht enträtseln. Ich mache mich auf den Weg nach Hause. Irgendwann fällt es mir wie Schuppen von den Haaren. Da mein Spezialthema im ersten Staatsexamen die Schädlingsbekämpfung war, kenne ich mich ein Bisschen aus mit den Insektiziden. Nicht alle sind Fraßgifte und müssen mit der Nahrung aufgenommen werden. Solche können Bienen natürlich bei der Nahrungssuche gefährlich werden, nämlich immer dann, wenn Blütenpflanzen damit behandelt werden. Es gibt aber auch noch reine Kontaktgifte. Hier reicht es, wenn sich eine Biene nur auf einer behandelten Pflanze niederlässt, um sich zu vergiften. Je nach Darreichungsform eines Insektizids kann es zudem vorkommen, dass Pflanzen versehentlich kontaminiert werden, weil der Wind das Gift verdriftet. Das funktioniert im Kleinen, also von einem Blumenkübel auf der Terrasse auf einen benachbarten, wie im Großen, also von einem Feld auf eine nahe gelegene Hecke oder den Waldrand. Ich hätte meinen Freund danach fragen sollen ob er versucht hat, die Schädlinge auf der anderen Pflanze loszuwerden. Vielleicht hätten wir so schon eine Erklärung für das kleine Bienensterben auf seiner Terrasse. Als eine weitere Ursache für den Artenschwund bei den Insekten gilt jedenfalls tatsächlich der großflächige Einsatz von Insektiziden. Wer hätte das gedacht?

Zuhause angekommen beschließe ich, die Bienenfresser gleich morgen noch einmal zu besuchen. An einem normalen Wochentag ist dort bestimmt nicht so viel los wie am Sonntag. Etwas verliebt bin ich ja schon in die kleinen Vögel.

Mittwoch, 11. Juli 2018

24. Die Exkursion zu den Bienenfressern

Die Zwiebeln werden von einer Maschine eingesammelt.
Ich streife durch meine Gegend und laufe dabei über einen Feldweg. Es riecht nach den Zwiebeln, die ein Gemüsebauer wohl am Vortag aus dem fruchtbaren Auelehmboden gebuddelt hat und die er heute einsammelt. In meiner Hand halte ich die Kamera mit dem alten 300er Teleobjektiv. Die Lichtstärke ist mit f=4,0 nicht wirklich überwältigend, aber es ist die längste Brennweite mit Autofocus, die ich besitze. Damit will ich mich an das heutige Thema herantasten, und mich im Übrigen auf die aberwitzige Auflösung der Kamera verlassen. Im Notfall kann ich immer noch Ausschnittvergrößerungen machen, wenn die Brennweite nicht mehr hergibt.
An einer kleinen, halboffenen Hütte direkt am Weg halte ich an und setze mich auf eine kleine Bank in der Hütte, und zwar mit dem Gesicht zur Rückwand. Dann öffne ich eine schmale Klappe in dieser Rückwand und habe ich sie direkt vor mir: Die Gerolsheimer Gruben. Der teilweise noch in Nutzung befindliche Tagebau zur Sand- und Kiesgewinnung beherbergt immerhin die zweitgrößte Bienenfresserkolonie in Rheinland-Pfalz.

Augenblick mal! Habe ich hier nicht großflächig das Thema verfehlt? Ich habe doch erst gestern lang und breit hinausposaunt, dass das Sommerferienthema „Makrofotografie“ heißt. Sogar mit dem Zusatz „dokumentarisch“. Und jetzt laufe ich hier mit einer 300mm-Spannerkanone herum? Nun: Es geht u. A. um Insekten. Und ein guter Indikator für den Zustand einer Population von Lebewesen ist der Zustand der Prädatorenpopulation, die sich von diesen Lebewesen ernährt. Wir müssen über Insekten reden. Das wollte ich eigentlich schon in der letzten Folge dieses Blogs, habe mich aber dann doch irgendwie verquasselt. Den Gliederfüßern geht es in der letzten Zeit überhaupt nicht gut, das belegen verschiedene Studien. In der Wikipedia findet sich zu dem Thema eine ganz ordentliche Zusammenfassung. Der Rückgang der Insekten seit den 80er Jahren ist teilweise erschreckend. Wenn wir dem nicht Einhalt gebieten, werden die Folgen katastrophal sein. Nicht nur für die Landwirtschaft. Ich bilde mir wirklich ein, dass ich mir zu diesem Thema ein Urteil erlauben kann.

In den Steilwänden des Tagebaus
brütet der Bienenfresser. 
Der Anblick, der sich mir durch das schmale Fenster bietet ist atemberaubend. Ich sitze nur ein paar Meter von einer Steilwand im Auelehm entfernt. Hier bauen die Bienenfresser ihre Nester als Höhlen in den Lehm. Und vor der Steilwand liegt ein langsam zuwuchernder Grundwassertümpel. Hier tummeln sich alle möglichen Insekten und davon ernähren sich die Bienenfresser. Es herrscht Hochbetrieb. Die für mitteleuropäische Verhältnisse ungewöhnlich bunten Vögel fangen die Kerbtiere im Flug. Dann setzen sie sich auf einen Ast, um die Beute zu töten, eventuell vorhandene Giftstachel zu entfernen und sie so für die Küken oder für den eigenen Verzehr aufzubereiten. Schnell wird klar: Der Autofocus bringt mir hier keine Vorteile. Er stört vielmehr, weil er nach jeder Änderung des Bildausschnitts die Focusebene verändert. Das kostet Zeit, in der die Vögel oft schon wieder ihren Platz gewechselt haben. Außerdem sind 300mm bei derart kleinen Tieren nicht wirklich eine lange Brennweite. Ich brauche die große Linse. Die ganz große! Alla hop: Ab auf‘s Mopped und los. Dass ich bereit bin, einfach so 60 Kilometer zu verblasen, nur um ein anderes Objektiv zu holen, zeigt wohl, wie wichtig mir die Bilder sind. Ich bin ganz wuschig vor Aufregung. Ein solchen Suchtverhalten im Zusammenhang mit Fotografie hatte ich schon lange nicht mehr.

Tatsächlich ernähren sich Bienenfresser zu 80% von
Großlibellen.
Einen Rückgang der Insektenbiomasse seit den 80er Jahren um etwa 80% stellte ein Krefelder Entomologenverein fest. Untersuchungsstandort war, und das ist vielleicht besonders alarmierend, ein Naturschutzgebiet. Nun könnte man das abtun mit Bemerkungen wie: „Das sind doch nur Amateure!“ oder „Das ist doch keine wissenschaftliche Arbeit!“. Aber ich sage: Es ist wissenschaftliche Arbeit. Gerade bei großen statistischen Erhebungen in der Biologie werden oft Studenten (im wissenschaftlichen Sinn Amateure) angelernt und dann im Feld eingesetzt. Mit der Zeit kommt die Routine, und solche angelernten Helfer sind dann zuverlässig und günstig. Langzeitstudien nur mit Doktoren und Professoren durchzuführen wäre unbezahlbar. Außerdem sind eben diese Doktoren und Professoren oft Mitglieder in den entomologischen Vereinen und leiten die anderen Vereinsmitglieder wissenschaftlich an. Die verwendeten Methoden sind dokumentiert, hier wurde sauber und wissenschaftlich belastbar gearbeitet. Und das Ergebnis lässt nur geringen Interpretationsspielraum: Wenn schon in einem Naturschutzgebiet der Rückgang an Insektenbiomasse so erheblich ist, wie groß ist er dann erst auf landwirtschaftlich intensiv genutzten Flächen?

Da ist noch ein 400mm-Tele mit der vergleichsweise hohen Lichtstärke von f=3,5. Das hat zwar keinen Autofocus, aber sonst hätte ich mir diese Teletröte wohl auch kaum leisten können. Für moderne Objektive mit dieser Brennweite und Lichtstärke wird man heute deutlich vierstellig, wenn nicht sogar fünfstellig zur Kasse gebeten. Der Hersteller hat seinerzeit einen 2x-Telekonverter exakt für dieses Objektiv berechnen und herstellen lassen. Auch ein solcher befindet sich in meinem Besitz, und so komme ich auf 800mm mit Lichtstärke f=7,1. Die geringe Lichtstärke kompensiert die D810 locker über die ISO-Einstellungen. Der Konverter schluckt nicht nur zwei Blendenstufen Licht, er überträgt auch die Blendenwerte nicht an die Kamera. Aber das kann ich verschmerzen. Hier ist sowieso Handarbeit angesagt. Das Telefon, inzwischen habe ich dafür eine Halterung am Lenker, bringt mich sicher von den Gruben nach Hause und wieder zurück. Das klappt mittlerweile recht gut, ganz egal, ob ich mich von Tante Google oder von Frau Apple lotsen lasse. Da ich auf dem Telefon naturgemäß bei der Firma mit dem angebissenen Apfel immer angemeldet bin, hat sich Frau Apple nach und nach auch gemerkt, dass ich die Bundesstraße 271 hasse. Ich nehme sie nie, egal, wie oft sie mir vorgeschlagen wird. Inzwischen schlägt mir Frau Apple diese also auch nicht mehr vor. Ich vermute, dass der Algorithmus selbstständig aus meinem Verhalten gelernt hat. K.I. ist auch ein Thema, über das wir noch einmal reden müssen.

Die Bedeutung der Insekten in dem uns umgebenden Ökosystem lässt sich gar nicht hoch genug einschätzen. Bestäubter, nicht nur für Nutzpflanzen, sondern für fast alle Pflanzen. Nahrung für eine Vielzahl von Tieren. Ohne Insekten gäbe es weder die leckeren Erdbeeren auf dem Neustadter Wochenmarkt, noch die prächtigen Kirschen, die ich immer mit den Worten „Der dicke Mann mit dem Obst ist da!“ in den Keller der Villa Böhm bringe. Auch die Fledermäuse, die im Villapark abends herumflattern und bei den Vorstellungen eine stimmungsvolle Atmosphäre schaffen, wären weg. Womit sollten wir sie auch anlocken? Mit in die Luft geworfenen Leberknödeln? Amseln? Fehlanzeige! Kröten und Frösche? Vergessen Sie es. Forellen? Die leben von Insektenlarven! Die gibt es dann nicht mehr. Bienenfresser?
Ich habe Biologie studiert. Ich kann das stundenlang!

Merops apiaster
Das Objektiv mit dem Telekonverter gebärdet sich zunächst etwas zickig. Es dauert eine Weile, bis ich die für meine Zwecke passenden Einstellungen gefunden habe. Aber irgendwann klappt es ganz ordentlich. Ich gewöhne mir an, eine der Sitzwarten der Vögel anzuvisieren. Dann schaue ich mit dem rechten Auge durch den Sucher und halte den Bildausschnitt möglichst so, wie ich ihn festgelegt habe. Mit dem linken Auge schaue ich seitlich an der Kamera vorbei. So sehe ich, wenn sich ein Vogel dem Zweig nähert und kann abdrücken, bevor er sitzt. Ich will den Augenblick der Landung festhalten. Mit noch ausgebreiteten Schwingen sehen die bunten Flieger viel dynamischer aus. Das macht großen Spaß und die Ergebnisse gefallen mir gut. Manchmal erwische ich zufällig auch einen Streit zwischen den Tieren. Einer plustert sich auf und verjagt einen Artgenossen schreiend vom Ast. Das wirkt alles sehr putzig. Ich könnte stundenlang abtauchen in diese Welt.

streitlustig
Auf dem Rückweg fallen mir noch die bunt blühenden Blumen am Straßenrand auf. Die beiden Neustadt umgebenden Landkreise haben in den letzten Jahren auf den Straßenrändern natürlich in Mitteleuropa vorkommende Wildkräuter aussähen lassen. Kornblumen, Disteln und Schafgarbe erkenne ich ohne abzusteigen, weitere Blütenpflanzen bereichern das Bild. Das ist gut für die Insektenwelt, und damit gut für uns.

Als ich in den Hof meines Hauses einfahre gibt das Handynavi bekannt: „Ziel erreicht. Sie sind Zuhause“. Ach Telefon: Ich bin in der Pfalz. Ich bin doch schon den ganzen Tag zuhause!

P.S.:
Einen Ordner mit der vollständigen Bilderausbeute dieses Tages können Sie hier einsehen.

Dienstag, 10. Juli 2018

23. Das Sommerthema

Gleich verschwinden die Plakate im
Wertstoffsack.
Ich streife durch meine Stadt, und dieses Mal musste ich dafür überhaupt nicht weit laufen. Ich treibe mich mal wieder im Park der Villa Böhm herum. Den Weg dorthin kennt ihr ja bereits. Und um es kurz zu machen: Ich habe den Aftershow-Blues. Das Sommerstück ist vorbei. Es war so eine schöne Inszenierung und das Publikum hat das Stück wirklich gut angenommen! Die letzten fünf Vorstellungen waren praktisch ausverkauft und wir mussten noch weitere Stühle dazustellen. Das hat wirklich gut getan! Auch der Zusammenhalt im Ensemble war großartig. Wie in einer Familie. Bis eben habe ich mit meinen Freunden aus der Neustadter Schauspielgruppe die Plakate von den Straßenlaternen entfernt. In dem Augenblick, als ich sie in die Wertstoffsäcke gestopft habe, hat es mich innerlich fast zerrissen.

So viel Arbeit steckt da drin - man macht sich ja als Außenstehender keine Vorstellung davon! Das geht nur mit einem riesigen Ensemble auf und hinter der Bühne. Allein an diesen Plakaten haben zwei Personen gewerkelt: Den Scherenschnitt von Cyrano habe ich aus einem extra dafür aufgenommenen Profilfoto mit Fotoshop erzeugt. Nicht wirklich schwierig, aber wenn man, wie ich, so gar keine Ahnung von Photoshop hat, sitzt man dennoch eine ganze Weile daran und wühlt sich durch gefühlt eine Million Menüpunkte. Eine Grafikerin hat dann damit die Plakate gebaut. Für die Nase des Cyrano wurde eigens eine professionelle Maskenbildnerin mit ins Boot geholt. Weil sie ihre ersten Gehversuche im Zusammenhang mit ihrem Beruf im Keller der Villa Böhm - also im amtlichen Hauptquartier der Neustadter Schauspielgruppe - gemacht hat, hat sie ihr professionelles Know-How selbstverständlich ehrenamtlich und kostenlos eingebracht. Wie alle hier. So standen zum Beispiel in diesem Jahr allein drei ausgebildete Theaterpädagogen auf und hinter der Bühne und betreuten Teilbereiche der Regie. Dazu viele alte Theaterhasen mit Jahrzehnten an Bühnenerfahrung. Der Tontechniker war vor seinem beruflichen Ruhestand Profi auf diesem Gebiet, und das merkt man auch. Die Kulissen bauen, zumindest teilweise, gelernte Handwerker und angemalt werden sie nicht von irgendwem, sondern von einer bekannten Künstlerin aus der Region. Selbst die blutjungen Nachwuchsschauspieler hatten teilweise schon mehrere Jahre Erfahrung auf dem Buckel.
Wir sind Amateure, keine Laien!
das sympathische Sommerensemble 2018 (teilweise)

Um mich vom Verlust meiner Sommerfamilie abzulenken mache ich Insektenbilder. Als studierter Biologe und Geograph sind eigentlich die Landschafts- und Architekturfotografie meine Domänen. Und die Makrofotografie. Klassische Bienchen- und Blümchenbilder mit dem Ziel, die bestimmungswichtigen Merkmale festzuhalten. Die Gestaltung ist dabei erst einmal nicht so wichtig. Dennoch entwickeln solche Bilder trotzdem eine gewisse Ästhetik, einfach weil die Geschlechtsorgane der höheren Pflanzen und die Kerbtiere so schön sind. Außerdem sind die Outtakes manchmal bezaubernd: Man sieht zwar keine bestimmungswichtigen Details, aber plötzlich schaut einem ein Schmetterling oder eine Gottesanbeterin direkt in die Augen. Atemberaubend! Damit habe ich mich schon viel zu lange nicht mehr beschäftigt. Alla dann: Ferienthema 2018 ist die dokumentarische Makrofotografie. Im Park der Villa Böhm gibt es ein geradezu hinreißend verwildertes Blumenbeet. Dort beobachte ich schon seit Wochen die Schmetterlinge und Wildbienen und hier beginne ich meine Exkursion in die Welt der Kleintiere. Doch die Qualität der entstehenden Bilder hält sich in überschaubaren Grenzen. Habe ganz schön viel verlernt, in den letzten Jahren.

Etwas frustriert steige ich auf’s Mopped. Der Weg führt mich zunächst auf einen bereits beschrieben Umweg. Die ganze Strecke darf nur mit maximal 30 km/h, stellenweise auch weniger, befahren werden. Und so tuckere ich gemütlich und untertourig das Sträßchen hinauf. Ich schwelge in Erinnerungen. Zum Beispiel an das hübsche Ausflugslokal in dem lauschigen Tal, wo ich mir erst vor Kurzem den Bauch vollgeschlagen habe. Während ich so träumend das Sträßchen entlangrolle streift mein Blick einen großen Doldenblütler, an dem sich auffällig viele Schmetterlinge tummeln. „Augenblick mal. Das ist doch genau das, was du suchst.“ muss ich mir selbst ins Gedächtnis rufen. Es dauert trotz der niedrigen Geschwindigkeit einige hundert Meter, bis ich eine geeignete Stelle zum Drehen finde. In der Nähe der Umbellifere biegt ein kleiner Forstweg ab. Dort kann ich den Boxer abstellen und mich mit der Kamera zu Fuß auf den Weg machen. Tatsächlich tummeln sich an den Blütenständen der Pflanze nicht nur die auffälligen orangefarbenen Kaisermäntel. Es finden sich dort auch Fliegen, mehrere Arten von Schwebfliegen und diverse Käfer ein. Insgesamt zähle ich fast ein Dutzend Arten, und das an nur einer einzigen Pflanze. Warum eine weitere Engelwurz, die nur zehn Meter weiter ihre Dolden präsentiert, völlig sexlos und unbestäubt bleibt ist mir ein Rätsel.

Der Kaisermantel schaut, aus der Nähe betrachtet,
ganz schön dumm aus der Wäsche.
So langsam erinnere ich mich an die für die Insektenfotografie notwendigen Zutaten: Neben einem ordentlichen, langbrennweitigen Makroobjektiv mit 1/2 bis 3/4 zugezogener Blende und einem Blitzgerät braucht man vor Allem Geduld und Beobachtungsgabe. Welche Blüte an einer Pflanze gibt besonders viel Nektar, wird also häufiger besucht? Vor dieser Blüte legt man sich bewegungslos auf die Lauer und wartet. Den Tieren hinterherzujagen bringt nichts, damit schlägt man sie nur in die Flucht. Tatsächlich gelingen mir einige Aufnahmen, mit denen ich die Lepidoptera später zuhause bestimmen kann. Außerdem gelingt mir noch ein schönes „Schau mir in die Augen, Kleines“-Bild. Ich hatte fast schon vergessen, wie beglückend und entspannend das Abtauchen in diese Welt ist.

Wieder auf dem Motorrad fahre ich das Sträßchen bis zu dem an seinem oberen Ende gelegenen Parkplatz. Von dort aus nehme ich eine lauschige Kreisstraße, die mich mit sanften Kurven über eine Strecke von fast zehn Kilometern quer durch den Wald nach Wachenheim bringt. Hier biege ich nach links ab Richtung Bad Dürkheim. Doch dann mache ich gleich wieder ein kleiner Abstecher: Anstatt die Stadt auf dem direkten Weg zu durchqueren biege ich ab und bin mit einem Mal auf dem Holzweg. Der heißt wirklich so! Zunächst geht es durch ein Wohngebiet, und plötzlich bin ich wieder mitten im Wald. Es gibt mitten in Bad Dürkheim einen bewaldeten Berg, der fast vollständig von der Kurstadt und ihren Vororten umgeben ist. Den lasse ich das Fahrzeug jetzt erklimmen. Oben angekommen stehe ich vor der Klosterruine Limburg. Da wird heute geheiratet. Ein Schild an der Klostertüre fordert die Hochzeitsgäste auf, hier auf die Abholung durch den Standesbeamten zu warten. Da ich aber mit der Hochzeit nichts zu schaffen habe, trete ich ein und finde mich in einer ziemlich großen Kirche ohne Dach wieder. Im Inneren wachsen Platanen und es finden sich kaum noch Hinweise auf das Spektakel, welches hier noch vor wenigen Tagen stattgefunden hat: Theater unter freiem Himmel. Das „Theater an der Weinstraße“ hat in der malerischen Ruine seinen Stammsitz. In diesem Jahr gab es mit dem „eingebildet Kranken“ von Molière einen echten Schenkelklopfer. Natürlich hat es sich das Sommerensemble der Neustadter Schauspielgruppe nicht nehmen lassen, am spielfreien Wochenende fast geschlossen dort aufzuschlagen, um sich über die klassischen Komödie zu amüsieren und um der befreundeten Theatergruppe unsere Aufwartung zu machen. Schließlich wurde das Theater an der Weinstraße vor über 40 Jahren von ehemaligen Mitgliedern der Neustadter Schauspielgruppe gegründet. So erzählt man es sich zumindest. Den Wahrheitsgehalt dieser Erzählung konnte ich bislang nicht überprüfen.

Bühnenabbau auf der Limburg
Die Inszenierung fand ich sehr gelungen, nicht zuletzt weil das Regieteam das Stück beherzt zusammengestrichen hat. Das ist vermutlich der schwierigste Teil der Regiearbeit, sicher aber einer der wichtigsten. Außerdem wird es in der zugigen Klosterruine nachts recht kühl, deshalb gilt gerade hier: In der Kürze liegt die Würze! Trotzdem hatten natürlich alle etwas zu nörgeln. Der Lichtmann unserer Gruppe legte sofort den Finger in die Wunden des Bühnenlichts, der Tontechniker bemerkte Unstimmigkeiten beim Ton, Regisseure bemängelten dies, Schauspieler das. Man sollte einfach nicht mit Theaterleuten ins Theater gehen.
Ein paar Tage nach unserem Besuch bin ich noch einmal auf der Limburg gewesen und zufällig in den Abbau der surrealen Kulissen geplatzt. Eine der Darstellerinnen hat mich angesprochen und sofort mit meinem Namen begrüßt. Vermutlich eine ehemalige Schülerin meiner Schule. Ich kann hier wirklich kaum noch irgendwo auftauchen, ohne dass mich jemand erkennt.

Ich genieße noch einmal den atemberaubenden Ausblick von der Limburg. Mit der Ruhe ist es vorbei in dem Augenblick, da die Hochzeitsgesellschaft eintrifft. Zeit aufzubrechen. Der Umweg über die Limburg hat den Vorteil, dass man von hier aus ohne viel Federlesen direkt auf die B37 kommt. Klingt wenig spektakulär, ist es aber. Die B37 führt von Bad Dürkheim aus direkt in den Pfälzer Wald. Bei strahlendem Sonnenschein spüre ich den Wind auf meiner Haut, sehe liebestollen Zitronenfalterpärchen beim Hochzeitstanz zu und weiche den Tänzern aus, damit sie nicht als gelber Belag auf meinem Helmvisier enden. Und wo Sie gerade sagen „Wind auf meiner Haut?“: Ja! Ich weiß! Ich sollte nicht ohne Schutzkleidung fahren. Damit bin ich kein gutes Vorbild und das sollte ich in meinem Beruf doch unbedingt sein. Und ich bezahle ja  auch regelmäßig dafür, und zwar einen ziemlich happigen Preis. Nämlich immer dann, wenn sich ein stechendes Fluginsekt in mein T-Shirt verirrt. Aber manchmal kann ich nicht anders. Dann muss es einfach sein. Ich arbeite daran und gelobe Besserung. Bis zum nächsten Rückfall.

die Verkehrsinsel in Enkenbach-Alsenborn
Die einspurige Bundesstraße ist einfach zu fahren. Nur an einmal zwingt mich eine scharfe Doppel-S-Kurve zum Bremsen. Um es kurz zu machen: Letzten Endes führt mich mein Weg über Frankenstein (und ja: das heißt wirklich so.) nach Enkenbach-Alsenborn. Hier interessiert mich ein Kreisverkehr, den ich vor vielen Jahren zufällig bei einer Veranstaltung der (wie sollte es anders sein) Neustadter Schauspielgruppe entdeckt habe, bei der ich die Videotechnik mit gestaltet und bedient habe. Er wird dominiert vom Denkmal eines pflügenden Elefanten, dessen Geschichte Sie bitte an anderer Stelle nachlesen. Im Zusammenhang mit meinem Sommerferienthema ist seine Bepflanzung von Interesse. Lavendel übt eine geradezu unwiderstehliche Anziehungskraft auf Insekten aus. Tatsächlich entdecke ich wieder viele verschiedene Arten. Ein besonders bunter Kleinschmetterling weckt mein Interesse. Wie ich später feststelle gehört er zu den Widderchen. Dass ich mich bei einer Familie mit über 1000 Arten auf die Gattung Zygaena festlege, kommt mir im Nachhinein ziemlich vermessen vor. Das können eigentlich nur eingefleischte Spezialisten entscheiden.

ein Widderchen
Der Rückweg ist wie immer von Umwegen geprägt. Anstatt über das Lambrechter Tal direkt nach Neustadt zu fahren, verlasse ich in Frankeneck die Bundesstraße und nehme den Weg über die Kalmit nach St. Martin und Maikammer. Auch hier erinnert mich viel an meine Theatergruppe. In der Nähe der Tankstelle, wo ich den Durst meiner Maschine lösche, haben wir in der Maschinenhalle eines befreundeten Winzers Teile unserer Kulissen eingelagert. Im Gemeindehaus von Maikammer führten „meine“ Schauspieler zusammen mit Teilen der Blue Note Big Band vor einigen Jahren mit „Wir machen Musik - Davon geht die Welt nicht unter“ eine geradezu sensationelle Musikrevue mit Musik aus den 20er und 30er Jahren auf. Das war vermutlich die größte und aufwändigste Produktion der Neustadter Schauspielgruppe überhaupt, auf jeden Fall aber die größte Winterproduktion.

Und so geht es jetzt immer weiter. Es vergeht keine Viertelstunde, bis ich erneut auf Spuren der Theaterwelt stoße, in die ich vor sieben Jahren eingetaucht bin: In Hambach komme ich am „Theater in der Kurve“ vorbei. Eine Art Zimmertheater, mit dem sich ein ehemaliges Mitglied der Neustadter Schauspielgruppe wohl einen Lebenstraum verwirklicht hat. Wie schön, dass es so etwas gibt! Auch eine ehemalige Schülerin von mir, inzwischen ausgebildete Schauspielerin, macht hier regelmäßig Theater mit ihrer freien Theatergruppe „Der Petunientopf“. Großartige Nachwuchsarbeit wird hier geleistet, um junge Menschen an die Schauspielerei heranzuführen und ihnen das dafür notwendige Handwerkszeug zu vermitteln. Auch die Neustadter Schauspielgruppe hat immer wieder davon profitiert, denn schon mehrfach haben wir den talentierten und gut ausgebildeten Nachwuchs aus dieser Schauspielerschmiede in unseren Produktionen einsetzen können. Besonders stolz dürfen wir wohl auf einen jungen Darsteller aus diesem Stall sein, der auf Anhieb die Aufnahme in eine renommierte Schauspielschule in den USA geschafft hat. Danke Petunientopf, danke Theater in der Kurve!

Irgendwo fallen mir noch die Reste eines Plakates des „Dramatischen Hoftheaters“ auf. Auch diese freie Theatergruppe wurde gegründet von theaterbegeisterten Menschen, die in den Produktionen der Neustadter Schauspielgruppe über Jahre eine prägende Rolle gespielt haben. Auch heute noch arbeiten sie mit den hervorragenden Licht- und Tontechnikern der Schauspielgruppe zusammen. Daraus ergibt sich der für beide Gruppen charmante Vorteil, dass es niemals zu Terminüberschneidungen und damit zu einer Konkurrenzsituation kommen kann.

Ich kann es drehen und wenden wie ich will: Wenn ich an einem Tag mit Aftershow-Blues einen Ausflug mache, dann dreht sich in meinem Kopf doch wieder alles nur um Theater. Ganz egal, was das Thema des Ausflugs ist.

P.S.: Der Blog trägt den Untertitel „kleine mürrische Geschichten“, nicht „kleine mürrische Protokolle“. Der Ausflug hat so nie stattgefunden, das Sommerensemble hat auch nicht an der Produktion auf der Limburg herumgenörgelt und überhaupt habe ich eine ganze Menge frei erfunden. Und die tanzenden Zitronenfalter waren in Wirklichkeit Kohlweißlinge. Aber auch die werden zu gelbem Matsch, wenn sie mit einem Motorrad oder seinem Fahrer kollidieren.

Montag, 18. Juni 2018

22. Der Umweg

Ich streife durch meine Gegend. Zwischen meinen Knien schnurrt der Boxer, in einer Woche beginnen die Sommerferien und ich lasse das fast vergangene Schuljahr Revue passieren. Es war ungewöhnlich anstrengend und ich fühle mich deshalb wie durch den Wolf gedreht. Die Fahrt auf dem Motorrad durch meine geliebte Pfalz genieße ich deshalb ganz besonders. Motorradfahren wird für mich zunehmend zur Meditation. Stressabbau vom allerfeinsten. Um den Feierabendverkehr in Neustadt zu umgehen, fahre ich erst einmal in die falsche Richtung. Eigentlich möchte ich nach Süden, zunächst aber geht es nach Norden. In Gimmeldingen gibt es ein ziemlich verstecktes Sträßchen, das mich an einem malerischen Bachlauf entlang direkt in den Pfälzer Wald bringt. Ein Forstweg, aber für den allgemeinen Straßenverkehr durchaus freigegeben. Das weiß nur kaum jemand und viele Kartendienste im Internet weisen deshalb hier zwar einen Weg, nicht aber eine befahrbare Straße aus. Das ist ein Abstecher genau nach meinem Gusto. Glücklich strahlend erreiche ich den Parkplatz am oberen Ende des kleinen Tals. Von dort aus geht es über Lindenberg, Lambrecht und Frankeneck ins Elmsteiner Tal. Das ist zwar für Motorräder gesperrt, aber nur an Wochenenden und Feiertagen. Und auf den Wegweisern der Hauptstraße wird diese Sperrung auch nur ohne diese Einschränkung ausgewiesen. Erst direkt an der Einfahrt ins Tal wird klar, dass ich an einem Freitagnachmittag völlig legal die Strecke genießen darf. Ist schon schön, wenn man sich etwas auskennt. Aber ich wohne ja nicht erst seit gestern in der Pfalz.

Was war an dem Schuljahr eigentlich so anstrengend? Warum fühle ich mich so gebügelt?
Nun: Zunächst einmal war das Schuljahr aufgrund der Ferienregelungen extrem kurz. Dadurch drängelten sich Termine für Leistungsüberprüfungen im Kalender, die Kinder standen unter permanentem Prüfungsstress und als Lehrer hat man ständig einen Berg Arbeit auf dem Tisch liegen. In den Hauptfächern ist immer eine genaue Anzahl von Klassenarbeiten vorgeschrieben. Die Abstände zwischen zwei Klassenarbeiten desselben Fachs und den Klassenarbeiten mehrerer Fächer unterliegen einem komplizierten Regelwerk, da darf man als Lehrer keinen Fehler machen, sonst ist die Zeugnisnote anfechtbar. Außerdem hat man als Lehrer eine „hinreichende Anzahl von unterschiedlichen Leistungsnachweisen“ im nicht schriftlichen Bereich einzufordern. Was auch immer das heißen soll - aber auch hier: Anfechtbarkeit der Zeugnisnote wenn der Lehrer einen Fehler macht. Auch die den Vertretungsplan betreffenden Termine folgten dichter aufeinander als in einem längeren Schuljahr. Das ist natürlich für mich als den Vertretungsplanverantwortlichen eines mittelgroßen Gymnasiums ein nicht unerheblicher Stressfaktor.

Zunächst fahre ich an dem Wegweiser nach Iggelbach vorbei. In meinem Kopf rattert die Suchmaschine. Über diesen Ort hat ein ehemaliger Schüler aus einem Erdkunde-Leistungskurs einmal eine interessante Facharbeit geschrieben. Ehemalige Wüstung, dann wiederbesiedelt mit Einwanderern aus Frankreich und der Schweiz. Ist alles schon ewig her. Merkt man inzwischen auch nur noch an den Nachnamen, ansonsten sind das ja jetzt echte Pfälzer. Wer lange genug hier lebt, gehört irgendwann dazu. War da nicht auch noch eine bezaubernde Route am hinteren Ortsausgang von Iggelbach? In meinem Kopf tauchen verschwommene Bilder eines verträumten Sträßchens auf, auf das ich vor vielen Jahren einmal zufällig gestoßen bin. Ich drehe am nächsten Parkplatz um und nehme den Abzweig in das kleine Dorf. Vielleicht entdecke ich ja so einen weiteren der von mir inzwischen so geliebten Umwege in der Pfalz.

Im Laufe des Schuljahres erschütterten dann noch mehrere Schicksalsschläge die Schulgemeinschaft. Und ich meine jetzt nicht zerbrochene Fensterscheiben oder Liebeskummer, sondern von dem ganz harten Zeug. Dinge, die junge Menschen besser nicht erleben sollten und im Normalfall auch nicht erleben. Besonders meine liebenswerten Pubertiere aus der neunten Klasse hat es schlimm gebeutelt. Am Anfang des Schuljahres sind sie mir ja noch gehörig auf die Nerven gegangen. Aber als ich gesehen habe, wie sie in einer Krisensituation zusammenrücken können, wie sie sich, alle Rivalitäten über Bord werfend, gegenseitig unterstützen und aufrichten, war ich doch arg gerührt. Auch die Kolleginnen und Kollegen haben sich in der Krisensituation vorbildlich und sehr engagiert verhalten. Alle sind daran gewachsen und haben zueinander gefunden. Und gestern, am Tag der Zeugniskonferenzen, standen kurz vor der Dienstbesprechung einige meiner Pubertiere vor der versammelten Lehrerschaft, um sich dafür mit selbst gebackenem Kuchen zu bedanken. Ich war einigermaßen gerührt. Ich bin sehr stolz darauf, Teil einer so großartigen Schulgemeinschaft zu sein.

Das Mopped am Trifels
Hinter Iggelbach gibt es tatsächlich eine kleine und sehr hübsche Straße, die mich letzten Endes nach Annweiler bringt. Dort fahre ich noch bis zur Burg Trifels, genauer gesagt zum Parkplatz unterhalb der Burg, den ich aber sogleich wieder verlasse. Ich will heute nicht wandern, ich möchte nur fahren. Schon auf dem Hinweg zur Burg ist mit der Parkplatz zu einem Naturfriedhof aufgefallen, auf dem mehrere Moppeds herumstanden. Die Aussicht von dort wirkte von der Straße aus sehr vielversprechend und ist es tatsächlich, wie ich später feststelle. Das könnte ein neuer Lieblingsplatz werden.

Im vergangenen Schuljahr habe ich mich wieder stärker mit wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Literatur zum Thema Pubertät beschäftigt. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich das Phänomen völlig neu bewerten muss. Bisher dachte ich in diesem Zusammenhang immer an eine Art Krankheit: „Gehirn wegen Umbau geschlossen“.
Aber damit macht man es sich wohl zu einfach. In dieser Zeit werden ganz wesentliche Teile des Gehirns völlig neu verkabelt und verdrahtet. Am Anfang der Pubertät stehen Kinder mit kindlichen Gemütern. Am Ende sind es mehr oder weniger erwachsene Menschen mit völlig unterschiedlichen Denkstrukturen. Das ist für die Pubertiere extrem anstrengend und verwirrend und das Resultat grenzt an ein Wunder! Vielleicht sollten wir es einmal so sehen und diesen jungen Menschen in einer schwierigen Zeit des Umbruchs mehr Verständnis entgegen bringen. Ich meine jetzt nicht, dass wir ihnen alles durchgehen lassen sollten. Aber vielleicht würde es die Metamorphose erleichtern, wenn wir Erwachsenen die Pubertät wieder mehr als das begreifen würden, was sie tatsächlich ist: ein wichtiger, unverzichtbarer und wunderbarer Vorgang auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Es geht einfach nicht ohne, und da müssen alle durch. Und wir Lehrer eben noch ein Bisschen häufiger. Aber das Ergebnis kann sich sehen lassen. Meistens.

Das Modenbachtal:
Das Herz geht einem über und man möchte weinen vor Glück.
Von Annweiler aus taste ich mich zunächst nach Bad Bergzabern vor. Jetzt ist das Terrain wieder vertraut, den Weg entlang der Weinstraße und zurück nach Neustadt würde die langbeinige Bajuvarin auch ohne mein Zutun finden. Doch ich möchte es ihr nicht zu leicht machen, deshalb nehme ich einen weiteren Umweg und biege kurz hinter Burrweiler ins Modenbachtal ab. Besonders bezaubernd ist es hier im Frühling, aber auch im Frühsommer hat das Tal seine Reize: Es ist weiter als andere Täler im Pfälzerwald, lichter. Auf den Wiesen weiden Pferde und es riecht nach Kiefernharz und Blumen. Fingerhut leuchtet rot und giftig. Das Herz geht einem auf bei diesem Anblick. Nach etlichen Kilometern durch den Wald führt der Weg schließlich durchs Edenkobener Tal zurück an die Weinstraße. Dann noch ein kleiner Schlenker über St. Martin. Normalerweise würde ich an dieser Stelle auch noch einen Abstecher über die Kalmit genießen, aber da war ich heute schon. Lange vor dem Frühstück habe ich mir von dort aus den Sonnenaufgang angesehen, deshalb lasse ich diesen Umweg jetzt aus.

Schlaflos in Neustadt
Ein weiterer Grund für meine Erschöpfung fällt mir jetzt ein: Schlafmangel. Mit zunehmendem Alter neige ich dazu, abends erst lange nach Mitternacht einzuschlafen um dann morgens schon vor fünf Uhr wieder zu erwachen. Im Sommer schlägt diese Art der senilen Bettflucht inzwischen besonders gnadenlos zu und halst mir monatelang ein Schlafdefizit nach dem anderen auf. Wenn es sehr warm ist, bleibe ich bisweilen auch die ganze Nacht wach. Wenn nach dem Mittagessen dann das Suppenkoma einsetzt, könnte ich mich theoretisch gut und gerne eine Stunde aufs Ohr hauen. Aber praktisch funktioniert das nicht: Mittags zu schlafen ist mir noch nie gelungen, selbst nach einer durchwachten Nacht nicht. Und so bin ich heute morgen schon sehr früh aufgestanden, habe mich auf das Mopped gesetzt und bin auf die Kalmit gefahren. So kann ich die schlaflose Zeit wenigstens nutzen. Morgenmeditation nenne ich das. So beginnt der Arbeitstag zwar immer noch unausgeschlafen, aber wenigstens tiefenentspannt und mit einem mit Sauerstoff aufgeladenen Gehirn.

Wenn das stimmt...
In Neustadter Stadtteil Hambach ist wegen einer Baustelle die Ortsdurchfahrt gesperrt. Ich muss mich entscheiden: Rechts abbiegen bedeutet ein relativ rasches Erreichen der Umgehungsstraße, die ich normalerweise meide wie der Teufel das Weihwasser. Links geht es hingegen hinauf zum Schloss. Zum Hambacher Schloss, dem Symbol für das Einheits- und Demokratiebestreben der Deutschen im 19. Jahrhundert. Außerdem führt der Weg zum Schloß noch ein ganzes Stück durch den Wald - eine gute Wahl. Doch dieses mal entscheide ich mich für die Schnellstraße. Ich will schauen, ob mein Lieblingsgraffito noch existiert. Ich habe es vor etwa anderthalb Jahren entdeckt, sofort fotografiert und erwarte seitdem den September 2018 mit großer Sehnsucht. Denn wenn das Wandgemälde Recht hat, dann werde ich zu diesem Zeitpunkt Pfälzer. Dann lebe ich nämlich seit 19 Jahren in Neustadt. Ich kann das noch gar nicht glauben und bin eigentlich auch ziemlich skeptisch, ob das wirklich stimmt. Aber wie dem auch sei: Im kommenden September werde ich mir aus dem Wandgemälde ein T-Shirt machen lassen. Mal schauen, wer es versteht.

Mittwoch, 4. April 2018

21. Der Frühlingsanfang


Das Denkmal für ein ziemlich großes Trinkgefäß
Ich streife durch meine Wahlheimat und finde mich vor dem Restaurant "alter Kastanienhof" in Rhodt unter Rietburg wieder. Vor der Gaststätte  ziehe ich mir aus einem Automaten 90 Minuten Parkzeit und bewundere dann das Denkmal für den "Rohdter Piff". Sie glauben wahrscheinlich, dass das 500 Milliliter fassende Pfälzer Schoppenglas groß ist. Nun: In den "Rhodter Piff" passen davon 1000.

Eigentlich ist es zum Mittagessen noch etwas zu früh, aber das gebe ich mir jetzt. Der "Kastanienhof" in der Theresienstraße ist in der Tat einer der schönsten Plätze der Welt. Nicht nur weil die Theresienstraße selbst ein geradezu entzückendes Kleinod der Pfalz darstellt. Rhodt wurde bereits mehrfach ausgezeichnet im Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden – unser Dorf hat Zukunft“ - nicht zuletzt wegen eben dieser Straße. Nein, auch der Kastanienhof ist eine Perle: Ein altes landwirtschaftliches Anwesen wurde hier nach und nach zu einer der schönsten Gaststätten in der Pfalz ausgebaut. Neben den geschmackvoll eingerichteten Räumlichkeiten im Inneren des Gebäudekomplexes gibt es im Innenhof des ehemaligen Bauernhofes eine Außenterasse, auf die jetzt die Sonne scheint. Das Gasthaus hat noch eine zweite Außenterasse. Die liegt hinter dem Haus auf der Südseite und ist quasi in einen Wingert hineingebaut worden. Einmalig! Es ist der erste richtig warme Tag im Frühjahr 2018, über 20 Grad sind angekündigt und ich freue mich jetzt sehr auf einen Platz in der Sonne.

Mein ursprünglicher Plan sah eigentlich ganz anders aus. Auf meinem Schreibtisch liegt noch ein Stapel mit zu korrigierenden Arbeiten. Ein dicker Stapel. Die erste Ferienwoche habe ich mir bewusst frei genommen. Eine Woche Abschalten ist zwischendurch auch mal wichtig. Aber heute wollte ich die Ärmel hochkrempeln und möglichst viel wegschaffen. Doch dann kam alles ganz anders: Ich war noch nicht richtig wach, da summte und brummte es. Nicht etwa, dass mich Insekten in meinem Schlafzimmer besucht hätten. Es waren Telefon und Tablett, die unentwegt irgendwelche Meldungen auf dem Bildschirm anzeigten. Geräusche habe ich bei den Geräten längst abgeschaltet, also ist das "Summen und Brummen" eher metaphorisch zu verstehen. Aber Sie ahnen vielleicht was ich meine. SMS, WhatsApp, Telegramm, Facebook-Messenger oder Email: auf allen möglichen Kanälen schalmeite es: "Herzlichen Glückwunsch zum Wiegenfest!", "Lass' es ordentlich krachen!" oder "Feier' schön." Ach herrje! Das hatte ich ja völlig verdrängt! Ich habe Geburtstag. Was mache ich denn jetzt?

Der Wirt baut im Innenhof gerade die Außenbestuhlung auf. Vielleicht ist die andere Terasse, meine Lieblingsterasse, ja schon fertig. Ich frage freudig und freundlich danach. In dem Augenblick, da ich die Frage abschicke merke ich schon, das ich besser die Klappe gehalten hätte. Ich finde zunächst keine rationale Erklärung für seine Reaktion. Aber Tonfall (durchaus beherrscht, aber man spürt bei jedem Wort Blutdruck und Puls), abgesendete Informationen (sinngemäß: wir bauen hier gerade erst auf, dann müssen wir die Tische und Stühle noch abwischen und ich weiß jetzt schon nicht, wo mir der Kopf steht...) und Körpersprache (arbeitet weiter, während er mit mir spricht, und zwar heftig! Mann! Hat der Kraft!) sind eindeutig und lassen nur eine Interpretation zu: Der Wirt hat Stress. Und zwar richtig. Ich bin selber in einem gastronomischen Betrieb aufgewachsen und weiß deshalb, welch extremen Stressbelastungen ambitionierte Gastronomen wie der vor mir stehende ausgesetzt sind. Das respektiere ich uneingeschränkt und deshalb tut mir sofort meine Frage leid. Ich versuche zu beschwichtigen, entschuldige mich so höflich es geht und betrete die Gaststube. Himmelarschundzwirn! Der Laden ist ja jetzt schon brechend voll. Und auf den wenigen noch freien Tischen stehen "reserviert" Schildchen. Ich bitte einen der Kellner, mir einen kleinen Tisch zu geben, und es gibt noch genau einen. Später erfahre ich zufällig, dass außerdem noch eine Gesellschaft in einem Reisebus erwartet wird. Der Wahnsinn. Wir haben den ersten schönen Tag im Frühling, und hier geht schon die Post ab! Es ist noch nicht einmal halb Zwölf, und hier sind alle 80 Plätze im Innenbereich ausgebucht. Da habe ich ja mit meiner Frage nach der Terrasse in ein Wespennest gestoßen. Entschuldigung! Das wollte ich wirklich nicht.

Geburtstag geht mir ja eigentlich am A**** vorbei. Ein völlig willkürlich festgelegtes Datum, an dem man auf Kommando feiern soll. Und alle bohren in der Wunde herum: Du bist inzwischen schon wieder ein Jahr älter. Ein weiterer Schritt auf deinem Weg zu Siechtum und Tod. Ein Jahr näher an deiner ultimativen Verabredung mit dem Sensenmann. Geplant war eigentlich preußisches "business as usual". Und dann schrieb mein großer Bruder unter Anderem: "...gönne dir was!". Und mir schoß ein völlig aus dem Zusammenhang gerissenes Satzfragment durch den Kopf, das ich in den letzten Monaten immer häufiger benutze: "...wann, wenn nicht jetzt?"



Habt Sie das Video gesehen? Haben Sie es auch verstanden?

Ich antwortete meinem Bruder also:
"...wenn du es sagst... Dann gehe ich einmal nachsehen, ob ich im Tank noch ein paar Kilometer finde." Ich nehme mir erneut vor, wieder bewusster zu leben: Bei schlechtem Wetter wird disziplinierter gearbeitet, damit bei gutem Wetter der Schreibtisch möglichst leer ist und ich die schöne Landschaft in der ich lebe auch auskosten kann. "...wann, wenn nicht jetzt?"

Der Blick auf den Geilweiler Hof ist im Frühling unbezahlbar.
Ich bestelle ein Gericht mit Rahm-Champignons. Die Küche arbeitet schnell, die Kellner sind trotz des inzwischen bis auf den letzten Tisch besetzten Restaurants freundlich und gut organisiert. Das Essen ist köstlich, sehr zu empfehlen. Mehr als satt und überaus zufrieden verlasse ich den Kastanienhof und fahre weiter gen Süden. Inzwischen hat die Frühlingssonne die Luft schon ordentlich erwärmt. Überall blühen sich Mandelbäume um den Verstand, Osterglocken säumen gelb leuchtend die Straße und auch freilebende Tulpen stehen herum.


Das Herz geht mir auf bei diesem Anblick. Es ist der perfekte Tag. So kann es jetzt bleiben bis Ende November.

Ich fahre noch eine ganze Weile bis an die französische Grenze. Normalerweise würde ich jetzt in der Konditorei Rebert in Wissenbourg noch ein Stück Kuchen essen. Aber nach dem verfrühten Mittagessen im Kastanienhof bin ich noch derart pappsatt, dass ich diesen Programmpunkt getrost ausfallen lassen kann. Ich überfahre die Grenze also nur, um später erzählen zu können, dass ich in Frankreich war. Am ersten Kreisverkehr drehe ich um und freue mich, dass die deutsch-französische Grenze inzwischen so bedeutungslos geworden ist, dass man sie kaum noch wahrnimmt. Das ehemalige Zollhäuschen auf der französischen Seite wird inzwischen anders genutzt, wie genau kann ich nicht erkennen. In der ehemaligen deutschen Zollstation residiert inzwischen passenderweise ein Reisebüro.

https://www.youtube.com/WantedAdventure
Auf dem Rückweg mache ich noch einen Umweg zu meinem Spargelbauern. Ich möchte mich nach der zu erwartenden Ernte des beliebten Pfälzer Quietschgemüses erkundigen. Es war in den letzten Wochen so kalt, dass das noch auf sich warten lässt. Und wir werden wohl auch weiterhin noch etwas Geduld haben müssen. Aber wenn es dann wieder so weit ist, hat der Frühling endgültig gewonnen.


Das passende T-shirt habe ich bereits.

Donnerstag, 29. März 2018

20. Das "Hindenburg"

Ich streife durch meine Gegend und finde mich schließlich am Dom zu Speyer wieder. Augenblick mal! Hier bin ich doch schon einmal gewesen! Richtig! Hier hat vor fast zehn Jahren alles angefangen. Also dieser Blog hat damals angefangen, "alles" hat viel früher angefangen, nämlich ziemlich genau 13,7 Mrd. Jahre früher. So gegen Mittag.
Im September 2008 wollte ich hier das Domgebirge fotografieren und ein Tourist ging mir dabei auf die Nerven. Aus dem Bedürfnis heraus, die Geschichte des daraus resultierenden Bildes zu erzählen, entstand damals dieser Blog mit meinen kleinen mürrischen Geschichten. Mannomann! Wie die Zeit vergeht!

Und natürlich hat sich in diesen zehn Jahren die Welt gewaltig verändert: Die USA hatten ihren ersten dunkelhäutigen Präsidenten. In Russland regierte schon seit vielen Jahren Wladimir Putin. Kriege wurden beendet und neue Kriege begonnen. Diktatoren zum Teufel gejagt und Oligarchen haben sich ins Ausland abgesetzt. Die beiden jungen Frauen von Pussy Riot gingen für mehrere Jahre ins Arbeitslager und kamen wieder heraus. Multinationale Konzerne haben in mehrstelliger Milliardenhöhe Steuern "vermieden" und Wahlen wurden manipuliert, von wem weiß man noch nicht so genau. In den USA ist inzwischen der Mann mit dem Eichhörnchen auf dem Kopf Präsident. In Russland immer noch Putin. Das scheint die einzige Konstante zu sein. In Deutschland gewinnen sogenannte "besorgte Bürger" an Einfluss. Ein Rechtsruck geht durch die Gesellschaft, wie ich ihn noch vor wenigen Jahren für völlig unmöglich gehalten hätte. Aber Deutschland ist damit nicht allein. Auf der ganzen Welt machen sich Nationalismus und Rassismus breit, als habe es die 70er Jahre nie gegeben. Zur Zeit lese ich ein interessantes Buch über dieses Phänomen, was ich an anderer Stelle zu gegebener Zeit besprechen werde. Immerhin war  Kim Jong-un, seit Jahren mein persönlicher "sexiest man alive", gestern auf Staatsbesuch in Peking. In einem gepanzerten Zug. Das finde ich nun wirklich cool. Also den gepanzerten Zug. Nicht den dicken Mann mit den Atomwaffen.

Ich setze mich ins "Café Hindenburg". Hier gibt es den besten Espresso nördlich der Alpen. Und falls du, lieber Hubert, das jemals lesen solltest: Der ist wirklich ausgezeichnet! Nicht nur in Eichstätt gibt es guten, italienischen Kaffee. Und die Geschichte dahinter wird dich, mein Freund in deiner Eigenschaft als Historiker, besonders interessieren: Als der später im Dom zu Speyer bestattete Heinrich IV. von seinem Gang nach Canossa im Jahr 1077 zurückkehrte, brachte er einen arabischen Sklaven aus Italien mit ins Rheinland, der sich hervorragend auf die Zubereitung eines in seiner Heimat sehr beliebten Getränks namens "qahwa" verstand. Heinrich liebte es wegen seiner anregenden und, in größeren Dosen genossen, auch leicht euphorisierenden Wirkung. Dieser Sklave, sein Name ist nicht überliefert, wurde von Heinrich schließlich aus Dankbarkeit in die Freiheit entlassen und mit einem stattlichen Sümmchen ausgestattet. Er ließ sich in Speyer nieder und gründete 1084 das erste Kaffeehaus Deutschlands. Das "Hindenburg" versteht sich als Teil dieser langen Tradition und deshalb gibt es hier den besten Espresso nördlich der Alpen. Der in Eichstätt ist natürlich auch ganz gut, denn da wurden die ersten Bohnen vom Archaeopteryx höchstpersönlich eingeflogen. In der Jurazeit. Vor 150 Millionen Jahren.

Noch einmal zurück zu den besorgten Bürgern. Ich versuche, ihre Sorgen ernst zu nehmen und zu verstehen. Ich schaue mich um, und sehe tatsächlich viele Menschen, die irgendwie fremd aussehen. Ein junger Mann mit dunklem Teint fällt mir auf. Sein Haupthaar ist an den Seiten und im Nacken modisch superkurz und oben etwas länger. ("Undercut" nennt man das, glaube ich.) Er trägt einen dichten Vollbart. Jeans, Parka, Smartphone - soweit ich das beurteilen kann: kein billiges. Ein alleinreisender syrischer Flüchtling? Taliban oder doch nur Hipster? Als er näher kommt kann ich ihn in sein Handy sprechen hören: Er babbelt lupenreines Pfälzisch. Diese Frage wäre dann also geklärt. Aber jetzt mal im Ernst: Laufen wir Gefahr, durch Fremde überrannt zu werden? Werden wir "umgevolkt"? (Diese Vokabel habe ich tatsächlich irgendwo gelesen!) Was ist ein "Volk" überhaupt? Die Wikipedia bietet ein Füllhorn an verschiedenen Definitionen, die uns aber meines Erachtens nicht weiterbringen.
Nehmen wir doch einfach einmal ein praktisches Beispiel: Das deutsche Volk, insbesondere das am Rhein, wo wir schon einmal hier sind. Hier waren zunächst irgendwelche Leute, deren Namen wir nicht kennen, die aber Spuren hinterlassen haben.


Zum Beispiel den Gollenstein bei Blieskastel. Das liegt zwar nicht am Rhein, ist aber trotzdem ein gutes Beispiel, denn es liegt mitten in Deutschland und ich habe zufällig gerade ein schönes Bild von dem Menhir zur Hand. Dieses Artefakt ist über 4000 Jahre alt und ist präkeltisch. Hat ziemlich lange gehalten, bis die Nazis es umgeworfen haben und es dabei zerbrach. Halten wir fest: Schon vor den Kelten gab es hier Leute, die so etwas zustande gebracht haben.

Dann kamen die Kelten. Und wie das so ist, wenn Leute irgendwo einwandern: Man beäugt sich zunächst, möglicherweise skeptisch. Aber irgendwann geht man vorurteilsfrei miteinander um. Und irgendwann vermischen sich die Leute. Und das ist auch gut so. Durch das Vermischen von genetischem Material entstehen widerstandsfähigere Individuen. So war das schon immer. Auch unsere aus Afrika eingewanderten Homo-sapiens-Vorfahren in Europa haben sich mit den schon anwesenden Neandertalern (ursprünglich auch aus Afrika eingewandert - findet euch damit ab, ihr Rassisten: Wir sind alle Afrikaner!) vermischt, das ist mit modernen gentechnischen Methoden zweifelsfrei belegt worden. So wird man zum Beispiel gegen mehr Krankheiten immun. Vielleicht auch mit neuen Fähigkeiten ausgestattet. Der eingewanderte Kelte kennt vielleicht ein paar Tricks beim Ackerbau, die der präkeltischen Zivilisation noch nicht bekannt waren. Und so weiter, und so weiter.

Deutsche gab es damals noch gar nicht. Dann wanderten verschiedene germanische Stämme ein. Ein ziemlich kleiner davon, die Alemannen, war dann der Namensgeber für uns. Zumindest in der romanischen Welt. Halten wir fest, was bisher geschah: Mischung aus präkeltischer Bevölkerung und Kelten vermischt sich mit verschiedenen Stämmen, die wir heute als Germanen bezeichnen.
Dann kamen die Römer.
Man muss kein Historiker sein um zu wissen, dass man im Rheinland nur den Finger in die Erde zu stecken braucht, um sofort auf ein römisches Artefakt zu stoßen. In Köln fürchten Bauherren nichts mehr als den Tag, an dem die Baugrube ausgehoben wird. Es könnte ja sein, dass sich ein wertvolles römisches Artefakt findet, das dann archäologisch verarztet werden muss und den Bau um Monate oder gar Jahre verzögert bis einem die Finanzierung gepflegt um die Ohren fliegt. Die Römer haben sich hier wirklich eine ganze Weile gehalten. Und mit "Römer" meine ich jetzt nicht die Einwohner Roms. Im römischen Reich war es üblich, in den eroberten Gebieten Hilfstruppen anzuwerben, die dann in jeweils anderen Teilen des Reichs eingesetzt wurden. Anders hätte man den Laden auch nicht in Betrieb halten können. Was bedeutet das? In Spanien angeworbene Hilfstruppen wurden zu Beispiel in Palästina eingesetzt. Die aus Palästina in Nordafrika, und die aus Nordafrika in Germanien und so weiter. Die Veteranen bekamen nach einer gewissen Zeit im Dienst (20 Jahre, wenn mich nicht alles täuscht) ein Stück Land zugesprochen und trugen als Gutsherren zur Lebensmittelversorgung der Truppen und der Bevölkerung in den Provinzen bei.

Und was machen Leute, die mehrere hundert Jahre zusammenleben? Na was wohl? Ein Veteran der römischen Armee war im günstigsten Fall noch nicht einmal 40 Jahre alt. Wenn er 20 Jahre im Dienst der Legion überlebt hat, dann vermutlich unversehrt oder zumindest nur leicht beschädigt. Was ist ein gesunder Mann, wohlhabend und weltoffen, für ein Mädchen irgendwo in der germanischen Provinz? Richtig: eine gute Partie! Vernunftehe nennt man so etwas. Vielleicht hat er auch geglänzt mit Bildung und Humor. Schließlich war er geprägt von einer Hochkultur. Vielleicht war Liebe im Spiel und nicht nur schnödes Kalkül.

Aber das Ergebnis liegt auf der Hand: Bevölkerungsgruppen vermischen sich. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ich bin es leid, das jetzt in jedem Einzelfall mit historischen Tatsachen zu unterfüttern. Deshalb zitiere ich hier einfach nur Carl Zuckmayer:

"Vom Rhein. Von der großen Völkermühle. Von der Kelter Europas!

Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. – Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt – und – und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald, und – ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Vom Rhein – das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse. Seien Sie stolz darauf!"
(aus "Des Teufels General")

Was ich damit sagen will ist ganz einfach: Es gibt kein "deutsches Volk". Deshalb kann man uns auch nicht "umvolken". Wir sind eine Treppenhausmischung der Geschichte. Und das ist auch gut so. Ich bin stolz darauf, dass in mir genetisches Material aus vielen Gegenden der Welt vereinigt ist. Welches genau werde ich hoffentlich bald erfahren, denn mein scheidender Biologie-LK hat mir ein tolles Abschiedsgeschenk gemacht. Ich wäre enttäuscht, wenn ich nicht wenigstens zwei Kontinente in mir repräsentiert fände. Lieber noch drei.

Sehr nachdenklich mache ich mich wieder auf den Heimweg.
Und wieder einmal finde ich für die bezaubernden Weinprinzessinnen und Gebietsweinköniginnen, die mich von den Plakaten an jedem Ortseingang in der Pfalz anlächeln, keinen Platz in der Geschichte. Wie schade. Ich hatte mich so darauf gefreut, sie endlich einmal in den Blog einzubauen. Ach was soll's? Ich mach' das jetzt einfach.


Manche sehen so jung aus, dass ich mich ernsthaft frage ob sie, bei strenger Beachtung des Jugendschutzgesetzes, überhaupt schon in der Öffentlichkeit Wein trinken dürfen. Einige sind so entzückend anzuschauen, dass es mich in verkehrsgefährdender Weise vom Straßenverkehr ablenkt. Andere eher nicht. Ja, Beate, ich weiß! Das ist sexistisch. Aber wenn du solche Bemerkungen über George Clooney raushauen darfst, dann darf ich auch unsere Weinhoheiten toll finden und mich öffentlich dazu bekennen.

Und ja: Die ganze Geschichte um den Espresso, den in Speyer und den in Eichstätt, ist völlig frei erfunden.