Freitag, 9. Oktober 2015

14. Das große Spektakel an der Weinstraße

Ich streife durch mein Land, und wie fast immer tue ich das auf meiner guten, alten Schüssel. Seit über 15 Jahren leistet mir der Ganzkörpercabrio schon treue Dienste, fast zweimal hat er mich um den Erdball getragen - zumindest was die Zahl der gefahrenen Kilometer angeht. Nur äußerst selten hat das Mopped mich dabei im Stich gelassen. Danke Mopped, ich freue mich bereits auf die nächsten 15 Jahre! Ich finde, das musste jetzt auch einmal gesagt werden!


Ich habe mir vorgenommen, meine Familie im Norden von Rheinland-Pfalz zu besuchen. Von Neustadt aus sind das laut Google-Maps rund 200 Kilometer, knapp zwei Stunden ist man unterwegs. „Alla hopp!“ werden Sie vermutlich jetzt sagen, „Ab auf’s Mopped und los!“. „Moooment!“ würde ich Ihnen dann antworten „Hatte ich schon erwähnt, dass ich Autobahnen bis auf’s Blut hasse?“. Ich mag sie einfach nicht. Natürlich sind es effiziente Verkehrswege, um die uns die Welt beneidet. Selbstverständlich ist man auf ihnen schnell und zeitsparend unterwegs. Zur Zeit wird gerade die A61 aufgemöbelt und die neuen Teile sind jetzt richtig schick. Aber es sind so viele Psychopathen auf Autobahnen unterwegs. Drängler, die von hinten herangerast kommen, obwohl die Überholspur offensichtlich „zu“ ist, die aber trotzdem mit der Lichthupe nerven. Rücksichtslose Irre, die kurz vor einem Stauende noch mit hoher Geschwindigkeit rechts überholen. Dazu der Anblick von geplatzten LKW-Reifen, bei denen man sich gar nicht vorstellen möchte, was einem Motorradfahrer da hätte passieren können. Abgerissene Rückspiegel liegen herum und zerfetzte Tierkadaver. Erst heute habe ich mehrere regelrecht halbierte… Nein! Diese Bilder wollen Sie nicht in ihrem Kopf haben. Ich könnte jetzt noch ausführen, in wie vielen lebensbedrohlichen Situationen ich mich auf deutschen Autobahnen schon befunden habe, aber einigen wir uns bitte darauf, dass Sie mir das ohne weitere Überprüfung glauben. Auf dem Sattel eines Motorrades nimmt man den Straßenverkehr einfach völlig anders wahr.

Aber zurück zu Google-Maps: Hier gibt es einen wunderbaren Schalter, der heißt „Autobahnen vermeiden“. Dann berechnet einem die Software eine Route ohne Autobahnen. Und schon schnellt der Kilometerzähler von 196 auf 207 Kilometer (klingt nicht dramatisch), aber die prognostizierte Dauer der Fahrt von 1:56 Stunden auf 3:41. Und die vierspurigen Bundesstraßen, die sich unter den genannten Aspekten wie Autobahnen anfühlen und die ich deshalb ebenfalls meide, haben wir in dieser Routenberechnung noch mit drin, denn dafür gibt es bei Google-Maps leider keinen Schalter. Sie ahnen langsam, auf was ein Familienbesuch für mich hinausläuft, oder?

Alla hopp! Ab auf’s Mopped und los!
Wir schreiben den 30. August 2015, es ist kurz vor neun Uhr, und heute findet der Erlebnistag Deutsche Weinstraße statt. Deshalb wird dieselbe ab 10.00 Uhr gesperrt und nur für Radfahrer und Fußgänger freigegeben. Also jetzt bloß nicht trödeln! Gefrühstückt habe ich schon in der kleinen Backstube am Bahnhof, jetzt will ich über Mussbach und Deidesheim nach Bad Dürkheim und dann über Nebenstrecken, die schöne Landschaft genießend, die Weinstraße bis 10 Uhr hinter mir lassen. Von Bockenheim bis Alzey kenne ich weitere Landstraßen, und von dort aus will ich mich unter konsequenter Umgehung der Autobahn bis Bingen durchschlagen. Da beginnt der Mittelrhein. Rechts und links davon gibt es je eine lauschige Bundesstraße mit Blick auf eine der schönsten Landschaften der Welt. Ab und zu lockt hier eine gemütliche Fährfahrt mit Abwechslung und Abkühlung. So lautet der Plan.

Und der funktioniert dann auch. Für etwa 400 Meter. Da steht dann nämlich schon die erste Straßensperre. Ist ja eigentlich auch logisch und ich hätte daran denken können: Wenn um 10.00 Uhr alle Zufahren zur Weinstraße gesperrt sein sollen, muss man etwas früher mit dem Aufstellen der Schilder beginnen, sonst wird man nicht rechtzeitig fertig. Ich respektiere das Schild, nicht aber den Umstand, dass ich schon jetzt nicht mehr auf der Weinstraße fahren soll. Inzwischen kenne ich mich gut aus. Ich  hoffe deshalb, eine andere Zufahrt im noch ungesperrten Zustand zu erwischen. Das gelingt auf Anhieb und so kann ich tatsächlich noch ein ganzes Stück über meine Lieblingsstrecke in der Pfalz tuckern. Ab und zu sieht man auch noch ein Auto und keiner der vielen Polizisten meckert, also scheint meine Vorgehensweise prinzipiell in Ordnung zu sein. Es wird jedoch von Ortschaft zu Ortschaft schwieriger, einfach durchzufahren, denn überall werden Lieferwagen mit leckeren Spezialitäten abgeladen und Stände aufgebaut. Immer wieder stoße ich auf Absperrungen und Umleitungen. Ganze Dorfkerne sind offenbar schon seit dem Vorabend nicht mehr befahrbar, weil Vorbereitungen für das große Spektakel getroffen werden müssen. Die Pfälzer nehmen es verdammt ernst, das Feiern.

Außerdem schwillt die Menge der im Rudel cruisenden Radfahrer geradezu dramatisch an. Und mit der Menge auch das Unverständnis für die im deutschen Straßenverkehr gelten Regeln. Noch ist die Strecke ja eine ganz normale Straße, die von Autos, Weinbergschleppern und Motorrädern genutzt werden kann und auch genutzt wird. Vor mir zum Beispiel fährt ein Herr mittleren Alters auf einem flammneuen weißen Ebike neben einem etwas jüngeren Radler, ebenfalls mit Elektrounterstützung. Sie erreichen dabei, ohne zu schwitzen, eine für Fahrräder erstaunlich hohe Geschwindigkeit. Die Gebilde auf den Köpfen der Herren kommen mir dabei wie eine bunt lackierte Mischung aus Insektenkopf und Klonkrieger vor. Ich frage mich ernsthaft, warum vernünftige Menschen sich derart alberne Dinge auf den Kopf setzen.

Lord Helmchen und sein Padawan unterhalten sich während der Fahrt fröhlich plappernd. Sie achten dabei weder auf das was vor ihnen liegt, noch auf das was hinter ihnen kommt. So bemerken sie ein Hindernis erst in allerletzter Sekunde und müssen beide eine Vollbremsung machen. Glücklicherweise habe ich das kommen sehen und bin schon vor einiger Zeit auf Abstand gegangen. Sonst wäre das sicher nicht so glimpflich abgelaufen. Sechs Zentner Metall mit zwei Zentnern Mensch obendrauf bremsen sich eben nicht von jetzt auf gleich ab.

Den Versuch, mich noch vor der endgültigen Vollsperrung über die Weinstraße zu mogeln gebe ich schließlich in Bad Dürkheim auf. Zu viele Umleitungen nerven und kosten unnötig Zeit. Außerdem hat man in der Kurstadt das Plakat mit dem schönen Portrait der von hier stammenden deutschen Weinkönigin entfernt. Das hat zwar überhaupt nichts mit der Routenfindung zu tun, ärgert mich aber trotzdem. Ich bin ein großer Fan dieses Plakats und der darauf portraitierten jungen Frau. Dieser Tropfen hat das Fass zum überlaufen gebracht. So nicht, meine Damen und Herren aus der Kreisverwaltung, so nicht!

Zunächst bewege ich mich noch parallel zur Weinstraße nach Norden. Angesichts zahlreicher Sperrungen und Umleitungen mit unklarer Beschilderung gebe ich mich jedoch irgendwann endgültig geschlagen und brause dann doch noch ein Stück über die so ungeliebte Autobahn, auf der ich mich dabei auch reichlich unwohl fühle. Wenigstens sind sonntags keine LKW auf der A61, so fährt es sich relativ stressarm. In Bingerbrück geht es dann in Richtung B9. Diesen Abschnitt finde ich immer besonders aufregend, denn noch bevor ich den Fluss meiner Kindheit sehen kann, habe ich ihn bereits in der Nase. Etwas kühler wird die Luft, feuchter und leicht moderig. Ich mag das. Der Rhein ist vermutlich der einzige Fluss dieses Planeten, den ich am Geruch erkennen kann.

Durch die Trockenheit der letzten Wochen hat sich der Rhein stellenweise bis in die Mitte seines Bettes zurück gezogen. Die Burg Pfalzgrafenstein bei Kaub steht bei normalem Wasserstand auf einem Stückchen Land im Strom, das kaum größer ist als die Burg selbst. Bei diesem Niedrigwasser schwillt es auf eine beachtliche Größe und wächst mit benachbarten Inseln zu einem stattlichen Anwesen zusammen.


Große Sandbänke erscheinen, auf denen sich das höhere Leben in Form einiger Weidenzweige angesiedelt hat die, kaum angeschwemmt, sofort austreiben und innerhalb weniger Wochen kleine Sträucher bilden. Würde der Wasserstand so niedrig bleiben, wären sie die Vorreiter für eine Bewaldung der Eilande. Wenn ihnen die Klimaerwärmung jedoch nicht unter die Arme greift, werden sie vermutlich bald einfach nur ertrinken. Große Felsen werden sichtbar, die bei normalem Pegel tückisch unter der Wasseroberfläche lauern. Jetzt aber ergreifen die Möwen Besitz von ihnen und kümmern sich um die Düngung für eventuell interessierte Pionierpflanzen. An solchen in der Regel  unsichtbaren Felsen sind früher Schiffe zerschellt, nicht etwa wegen der Ablenkung der Steuermänner durch leicht bekleidete junge Damen, die sich auf einem Berg sitzend die goldene Lockenpracht bürsteten. Dank moderner Technik und dank der Sprengung der gefährlichsten ihrer Art, ist die Gefahr heute nicht mehr so groß. Also die Felsen wurden gesprengt, nicht die leicht bekleideten jungen Damen.

Ich liebe diese Strecke aus jeder Perspektive. Aus dem Auto habe ich sie schon genossen, meistens mit Beethoven als Soundtrack, im Zug gerne auch mit Vivaldi oder den Stones, und auf dem Mopped liefert eben der V2 den hypnotischen Klangteppich, der die Gedanken kreisen lässt. Im Kopf spielt allerdings das Columbia Symphony Orchestra unter der Leitung von Bruno Walter Wagner: Lohengrin, Vorspiel zum III. Akt, WWV 75. Kennen sie nicht? Sie haben doch bestimmt „Der große Diktator“ von und mit Charles Chaplin gesehen, oder? Sie kennen das Stück.

Die Schüssel fährt sich handlich wie ein Kleinkraftrad, das muss man ihr lassen. Lenken kann man mit dem Hintern, allein durch Gewichtsverlagerung. Die Fahrt über die schmale Bundesstraße ist bei diesem Wetter sehr angenehm. Ich bewundere die Landschaft und bei freier Straße überhole ich hin und wieder einen ebenso die Landschaft bewundernden, aber deutlich langsamer fahrenden Autofahrer mit britischem Kennzeichen. Am Anfang will ich mich noch über die rollenden Verkehrshindernisse ärgern. Aber dann wird mir wieder bewusst, dass es ja die Briten waren, die die Rheinromantik im 19. Jahrhundert praktisch erfunden haben. Ohne sie wäre der Mittelrhein als touristische Attraktion wohl niemals entdeckt worden, niemand würde sich heute um die geschleiften Festungen und Zollburgen scheren. Vermutlich wären sie als Steinbrüche genutzt und vollständig abgetragen worden. So höre ich auf, mich zu ärgern und muss schmunzeln, wenn ich mal wieder ein britisches Kennzeichen sehe. Und ob ich jetzt drei Stunden und vierzig Minuten für die Fahrt brauche oder vier Stunden zwanzig… Darauf kommt es nun wirklich nicht mehr an.

In St. Goar lege ich eine Pause ein. Da gibt es, mit herrlichem Blick auf den Rhein und das gegenüberliegende Ufer, auf einem großen Parkplatz einen Imbiss. Hier mache ich immer Pause, wenn ich am Mittelrhein unterwegs bin. JEDER auf dieser Route macht hier Pause. Der Parkplatz ist wie üblich rappelvoll und die Leute stehen in Scharen um den Imbiss herum. Es ist eigentlich kein besonderer Imbiss. Die Speisen sind nicht ungewöhnlich und die Karte genretypisch übersichtlich. Aber es ist jederzeit blitzsauber hier. Die Pommes schmecken nie nach altem, ranzigem Frittenfett und der Kaffee wird immer ganz frisch zubereitet. Die Damen hinter dem Tresen bleiben stets überaus freundlich und arbeiten routiniert und schnell. Man fühlt sich wohl, hat schöne Aussicht und kann zwischendurch seine Lieben anrufen und die voraussichtliche Ankunftszeit ankündigen. Je älter ich werde, desto mehr kann ich mich über solche Kleinigkeiten freuen. Gerne gebe ich der jungen, asiatisch aussehenden Frau mit der frisch gestärkten Bluse ein Trinkgeld. In einem Imbiss scheint das nicht üblich zu sein, denn sie bedankt sich geradezu überschwänglich. Das macht mir ein gutes Gefühl im Bauch, das mich bis Koblenz begleitet.


Hier wird die Fahrt wieder problematisch. Vor der Ortseinfahrt ist ein heftiger Stau, die Umgehungsstraße hinter dem Bahnhof ist gesperrt, und auf der Umleitungsstrecke über einen Parkplatz bewegt sich auch kaum etwas. Man könnte sagen: Koblenz ist völlig dicht. Da ich mich in der Stadt ein Wenig auskenne, benötige ich nur rund eine Stunde, um mich an der Innenstadt vorbei auf die andere Rheinseite durchzuschlagen. Zwischendurch erfahre ich noch den Grund für dieses erneute Ungemach: Ein Fliegerbombe aus dem zweiten Weltkrieg wurde gefunden. Auch so eine Hinterlassenschaft der Briten. Zusammen mit United States Air Force hat die Royal Air Force nämlich die Stadt am Zusammenfluss von Mosel und Rhein zwischen 1944 und 45 nahezu dem Erdboden gleich gebombt. Von den ursprünglich fast 100000 Einwohnern lebten deshalb bei Kriegsende nur noch rund 9000 in Koblenz, und in den Trümmern lagen jede Menge Blindgänger. Die Menschen kamen schließlich zurück, die Stadt wurde wieder aufgebaut, die Blöcke lösten sich auf und Deutschland wurde wieder ein Land. Die Besatzungssoldaten verschwanden, aber die Blindgänger blieben. Und die lauern bis heute auf eine Gelegenheit, ihre ursprüngliche Bestimmung zu erfüllen.

Zugegeben: Deutschland hatte sich zuvor bei den europäischen Nachbarn auch nicht gerade nett benommen. Der Kontinent brannte, und deshalb durften wir nun auch nicht meckern, als es auch am Rhein Trümmer gab. Umso mehr erstaunt es mich, dass Deutschland in vielen Umfragen siebzig Jahre später als beliebtestes Land der Welt abschneidet. Wie bitte? Die Deutschen werden gemocht? Mit Ablehnung wegen meiner Staatsbürgerschaft oder einer wegen meines Vornamens gerümpften Nase kann ich umgehen. Aber mit Zuneigung? Was ist denn da los?

Der Rest der Fahrtstrecke zu meiner Familie bietet wenig Spektakuläres. Auch der Rückweg nach Neustadt verläuft ohne nennenswerte Zwischenfälle. Nur zwei Dinge sind der Erwähnung würdig:
  • Auch auf dem Rückweg mache ich wieder eine Pause in St. Goar. Obwohl inzwischen viel Wasser den Rhein heruntergeflossen ist, sieht die Bluse der jungen Asiatin, trotz stundenlanger Küchenarbeit, immer noch aus wie frisch gebügelt. Das Wort „adrett“ schießt mir durch den Kopf, obwohl ich das normalerweise nicht mit der Kneifzange anfassen würde.
  • Auf der inzwischen wieder für den motorisierten Verkehr freigegebenen Weinstraße tummeln sich immer noch Schwärme von Radfahrern. Die meisten haben ihre futuristischen Helmgebilde inzwischen abgestreift und tragen sie nun lässig am Ellenbogen. Dafür sind viele von ihnen jetzt… (Nun - wie soll ich es ausdrücken?) …reichlich angeschickert.
Extrem vorsichtig lege ich die letzten Kilometer bis nach Neustadt zurück. Als ich endlich Zuhause ankomme, habe ich fast zehn Stunden auf der Schüssel hinter mir und bin wie immer sehr froh, dass unterwegs nichts passiert ist.