Sonntag, 4. September 2016

17. Die schönsten fünfzehn Kilometer der Welt

Ich streife durch meine Wahlheimat und zwischen meinen Beinen gurgelt, wie so oft bei meinen Streifzügen, markant und untertourig der V2. Es ist Spätsommer, die Sonne scheint, der warme Wind bläst durch meine Jacke und es geht mir gut. Ich bin auf der Jagd nach Motiven für mein aktuelles Fotoprojekt.

Jedes Jahr in den sechs Wochen des Sommers, in denen ganz plötzlich alle Arbeitnehmer Deutschlands mit mir tauschen möchten, stelle ich mir ein Thema, das ich dann fotografisch bearbeite. Meistens arbeite ich dann auch in den Wochen bis zu den Herbstferien in jeder freien Minute daran. In diesem Jahr heißt es „Panorama“. Und damit meine ich nicht die Panoramen, wie sie das Apfelfon inzwischen recht ordentlich hinbekommt. Wir reden hier vom kompletten Programm: Stativ, Nodalpunktadapter und ein neues Kameragehäuse mit einem CCD-Chip von geradezu atemberaubender Auflösung. Endlich zeigt sich, dass meine Kaufstrategie in Bezug auf Fotokram der letzten 30 Jahren genau richtig war: Lieber nur eine Festbrennweite als ein Zoombjektiv von minderer Qualität. Die Festbrennweite aber dann bitte hochwertig. Gerne auch gebraucht und ohne Autofocus, wer braucht bei Makro oder Landschaft schon Autofocus. Bei der hohen Auflösung meiner Panoramabilder würden Objektivfehler gnadenlos sichtbar - ich sage nur: „chromatische Aberration“! Näht man die Einzelbilder dann abends auf dem Rechner zusammen, entstehen Panoramen von einem Detailreichtum, der einem die Sprache verschlägt. Leider entstehen auch Datenmengen, die man nur noch schwer mit irgendwem teilen kann. Unkomprimierte TIFF-Dateien wiegen da schon einmal locker 1,5 GB. Selbst als komprimierte JPG-Versionen kann ich sie in Originalgröße nicht auf meinen Flickr-Account hochladen, weil sie schlicht zu groß sind. Aber egal: Ich tue das ja in erster Linie für mich und nicht für andere. Vielleicht lasse ich ja irgendwann einmal einen Kalender daraus herstellen.

Heute tuckere ich also an der nördlichen Weinstraße entlang bis Bad Dürkheim. Ich plane, zunächst mögliche Standorte für Panoramen nur auszukundschaften. Mittags mag ich keine Landschaftsfotos machen. Die Sonne steht dann hoch am Himmel, das Licht ist gleißend und hart. Schatten sind kaum sichtbar und die Landschaft wirkt flach. Auf dem Rückweg, so hoffe ich, kann ich dann bei günstigeren Lichtverhältnissen eine richtige Liste abklappern. Hinter Bad Dürkheim gibt es eine schöne Straße, die quer durch den Wald bis nach Altleiningen führt. Sie beginnt an einem Schild, das Fahrzeugen mit einem Gewicht von über zwei Tonnen die Durchfahrt untersagt.


Das lockt mich natürlich besonders an. Schilder wie dieses sind für mich gleichbedeutend mit Wegweisern zu schönen Moppedstrecken, quasi Gütesiegel. Hinter ihnen befinden sich nach meiner Erfahrung immer kurvenreiche, schmale Landstraßen mit wenig Verkehr die mich durch eine bezaubernde Landschaft geleiten. Hängen am gleichen Mast dann noch „Forstwirtschaftlicher Verkehr frei“ und „Ende der Ausbaustrecke“, ist das für den motorisierten Zweiradfahrer wie ein Sechser im Lotto. Das ist hier zwar nicht der Fall, aber ich kenne die Route: kommt noch! Und tatsächlich passiere ich nach wenigen Kilometern ein Ausflugslokal, neben dem die ersehnte Schilderkombination hängt. Grinsend schalte ich in den fünften Gang und pöttere das Sträßchen entlang. Immer wieder begegne ich Gruppen von Wanderern. Wandern ist sehr beliebt im dieser Gegend, und zwar durchaus auch bei jungen Leuten. Das liegt sicher nicht nur an dem ausnehmend gut ausgebauten und vielfältigen Wanderwegenetz. Auch die mannigfaltigen  Sehenswürdigkeiten allein locken kaum so viel Jungvolk in den Wald. Aber da sind ja noch dutzende Hütten des Pfälzerwaldvereins. Die werden oft ehrenamtlich bewirtschaftet und hier gibt es ausgezeichnete, wenn auch einfache Gerichte aus der deftigen Pfälzer Küche, sowie kühle Getränke. Die Hütten sind an strategisch wichtigen Plätzen im Wald gleichmäßig verteilt und hier sitzt es sich bei meist prächtiger Aussicht herrlich in der Sonne. Geselligkeit, Wurst und Wein - so lässt man es sich hier in der Pfalz gut gehen.

Da ich leise und relativ langsam fahre, fühlt sich keiner der Wanderer durch mich gestört und ich ernte freundliches Kopfnicken und hin und wieder auch mal ein Lächeln. Meine Laune verbessert sich weiter. Neben der Strecke wachsen beeindruckend große Pilze, wie in einem Zauberwald. Der Duft von Kiefernharz und Wildblumen steigt mir in die Nase. Es riecht immer so gut im Pfälzerwald!

In Höningen bewundere ich noch die Ruinen eines alten Klosters, dessen Fassadenteile die Bewohner malerisch in die aktuelle Wohnbebauung mit einbezogen haben, dann lichtet sich die Landschaft - Wald weicht Wiese - und vor mir liegt Altleiningen. Über dem Ort thront eine mittelalterliche Burgruine, deren wieder aufgebauten Teile heute als Jugendherberge dienen.

Im Veranstaltungssaal der Burg habe ich bereits der Musikrevue eines mir bekannten französischen Sängers beiwohnen dürfen. Gleich mehrere Amateurgruppen nutzen den schönen Spielort für ihre Veranstaltungen, und so hat das kleine Altleiningen ein durchaus ansehnliches kulturelles Programm aus Musik und Theater zu bieten. Im Burggraben befindet sich kurioserweise das Freibad des Ortes, und aus dieser Kombination - Burg und Schwimmbecken - möchte ich irgendwie ein Motiv für mein erstes heutiges Panorama herauskitzeln.

Gesagt - getan. Auf dem Parkplatz der Burg steht ein Büdchen. Im Ruhrgebiet würde man es vielleicht Trinkhalle nennen, doch in der Pfalz heißt es schlicht Kiosk. Hier decken sich die Schwimmbadbesucher und die Gäste der Jugendherberge mit Erfrischungen und Zuckerzeug ein. Ich parke daneben das Mopped und erkunde das Terrain. Das Schwimmbad ist bei dem tollen Wetter natürlich bestens besucht. Plötzlich ist mir gar nicht wohl bei dem Gedanken, vor der Jugendherberge und mit Blick auf das Becken in aller Seelenruhe ein Stativ mit Kamera aufzubauen. In Neustadt hat es im Freibad schon einmal richtigen Ärger inclusive Polizeieinsatz gegeben, weil jugendliche Besucher mit Handys herumgeknipst haben. Ich decke mich am Büdchen erst einmal mit einem Kaffee und einem Muffin ein und lasse mir das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen. Diesen Ärger riskiere ich lieber nicht. Wer will schon als Spanner verhaftet werden. In meinem Beruf geht so etwas garnicht. Vielleicht komme ich lieber noch einmal her, wenn das Schwimmbad geschlossen ist.


Etwas frustriert bin ich schon, als ich wieder auf das Mopped klettere. Doch das ändert sich rasch, denn ich habe ja wieder die schöne Strecke nach Bad Dürkheim vor mir. Die genieße ich in vollen Zügen. Mir fällt auf, dass sportliche Radfahrer hier, anders als in meiner eigentlichen Heimat, nicht in großen Pulks auf der Straße fahren, sodass man sie nur schwer überholen kann ohne sie oder sich selbst zu gefährden. Im Gegenteil: Hier wird in langen Ketten geradelt, Radfahrer wie an einer Perlenschnur aufgereiht. Der Fahrer an der Spitze einer dieser Ketten kann die nächste Kurve schon einsehen und gibt mir völlig selbstverständlich per Handzeichen zu verstehen, dass ich gefahrlos überholen kann. Zum Dank dafür überhole ich mit besonders großem seitlichen Sicherheitsabstand. Ich bin als Student und auch in meinen ersten Berufsjahren lange genug selber recht ambitioniert Fahrrad gefahren. Ich weiß, wie beklemmend es sich auf einem Velo sitzend anfühlt, wenn der motorisierten Verkehr ohne genügenden Sicherheitsabstand vorbeibrettert.

In Bad Dürkheim wird gerade der Wurstmakt aufgebaut. Eine überdimensionale Digitaluhr zählt den Countdown bis zum Beginn: Noch sechs Tage. Anders als der Name der Veranstaltung vermuten lässt, geht es dabei nur ganz nebenbei um Wurst. Der Dürkheimer Wurstmarkt ist nicht mehr und nicht weniger als das größte Weinfest der Welt. Mit angeschlossenem Rummel und natürlich auch mit Wurst. Aber vor allem Anderen: mit Wein. Solcherart Festivitäten sind mir eigentlich wurst. Deshalb habe ich den Wurstmarkt auch immer gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Doch vielleicht sollte ich mir das versuchsweise einmal geben. Und sei es nur, um eine Geschichte darüber zu schreiben. Den Neustadter Winzerfestumzug habe ich ja auf diese Weise auch kennen und schätzen gelernt.

Irgendwo zwischen Neustadt und Dürkheim steht direkt an der Weinstraße ein Hinweisschild "Pfalzblick" und zeigt in einen Wingert. Möglicherweise kann ich da noch ein schönes Panorama anfertigen. Das Licht ist inzwischen deutlich angenehmer und die Landschaft wirkt viel plastischer als um die Mittagszeit. "Pfalzblick" ist ein Ausflugslokal mitten im Wald und auf halber Höhe des Haardtgebirges. Der Clou: man kann bis vor die Türe fahren, und so muss ich das schwere Stativ nicht kilometerweit durch die Gegend schleppen. Die Aussicht von dort ist grandios. Bei klarem Wetter kann man von hier bis zum Odenwald sehen. Darauf freue ich mich jetzt.

Der schmale Weg führt in der Hügellandschaft der Weinstraße mitten durch die Weingärten. In allen Farben blühende Ackerwildkräuter, aber auch so mancher Rosenstock, säumen die Wingertränder. Die vielen Rosenstöcke neben den Reben sind mir schon öfter aufgefallen. Ich frage mich langsam, ob die Rosen vielleicht nicht nur zu Dekorationszwecken gepflanzt werden. Möglicherweise treiben sich auf denen ja Schädlinge herum, die sonst an die Reben gehen würden. Das muss ich bei Gelegenheit mal einen Winzer fragen.

Der Parkplatz des Pfalzblick ist rappelvoll. Ich stelle das Mopped hinter einem Kleinwagen ab in der Hoffnung, dass ich schneller mit dem Bild fertig werde als der Besitzer des Wagens mit seinem Kuchen. Am Aussichtspunkt sondiere ich erst einmal die Lage. Die Fernsicht ist nicht umwerfend, aber in Ordnung, die Gestaltungsmöglichkeiten für ein Bild wegen der vielen geparkten Autos eingeschränkt. Doch etwas anderes irritiert mich: Dutzende Großlibellen, es müssen über hundert sein, ziehen in meinem Gesichtsfeld ihre komplizierten Bahnen. Die jagenden Flugkünstler sind dabei wegen ihrer zwei unabhängig voneinander beweglichen Flügelpaare zu Manövern in der Lage, die kaum ein Vogel oder fliegendes Insekt jemals schaffen würde. Und das scheinen sie mir jetzt beweisen zu wollen. Hier im Berghang, abseits von jedem stehenden Gewässer, hätte ich so etwas nicht erwartet. Ich bin völlig fasziniert von diesem Anblick.

Ein Spielfilm fällt mir ein, den ich in den Ferien gesehen habe. In einer Szene schaut ein Fotograf durch sein Teleobjektiv und entdeckt einen Leoparden. Aufgeregt fordert er einen neben ihm sitzenden Mitarbeiter eines Bildmagazins auf, ebenfalls durch die Kamera zu schauen. Eine ganze Weile beobachten die beiden Männer nun abwechselnd den Leoparden durch das Teleobjektiv, bis der Magazinmitarbeiter den Fotografen fragt: „Wann drückst du auf den Auslöser?“. Und der antwortet: „Manchmal gar nicht. Wenn mir ein Moment gefällt - ich meine: Mir. Persönlich. Dann will ich nicht, dass mich die Kamera irgendwie ablenkt. Dann will ich einfach nur darin verweilen.“

Ich stehe noch ein paar Minuten an dem Aussichtspunkt und beobachte die Geschwader der kleinen Luftakrobaten. Dann steige ich auf das Mopped und fahre zurück nach Neustadt. Das Panorama am Pfalzblick werde ich an einem anderen Tag fotografieren.

Nachtrag (zwei Tage später):