Donnerstag, 26. Juli 2012

13. Der vermisste Zebraesel

Ich streife durch meine Gegend. Zwischen meinen Knien gurgelt und pöttert mal wieder untertourig der V2, der Wind bläst mir durch die Jacke - schön! Manchmal, wirklich nur ganz selten und auf freier, gerader Strecke, drehe ich aus purem Übermut am Gasgriff. Nur um mich davon zu überzeugen, dass alle 75 Pferde noch da sind. Das vermittelt mir das beruhigende Gefühl, dass ich mich aus einer Gefahrensituation wuchtig herauskatapultieren kann. Bisher war das erst einmal notwendig. Gut so!

Alle nörgeln über den verregneten Sommer, aber mir macht das nichts aus. Mit Grausen erinnere ich mich noch an den schrecklichen Sommer von 2003, der de facto von April bis November dauerte. Da gab es Temperaturen von über 40°C im Schatten, und in der Pfalz hat es stellenweise ausgesehen, wie ich mir die Sahelzone vorstelle. Hitze bekommt mir eben nicht, und die paar Tropfen Regen vertrage ich auch ohne besondere Schutzkleidung. Ich bin ja schließlich nicht aus Zucker! Und seit ich die elende Qualmerei aufgegeben habe, bin ich ohnehin dauerhaft mit Thermounterkleidung ausgestattet - aus Biopren. 

Durch die ständig verfügbare Feuchtigkeit ist die Natur geradezu explodiert, deshalb blühen jetzt am Straßenrand Wildblumen und ausgewilderte Ackerpflanzen. Herrlich! Mir fällt auf, wie ungeheuer reich diese Landschaft ist. Ich meine nicht finanziellen Reichtum, auch wenn ich zugeben muss, dass es dem Durchschnittspfälzer heutzutage sicher erheblich besser geht, als in all den Jahrhunderten zuvor. Nein, ich meine die naturräumliche Ausstattung der Weinstraße und der Oberrheinebene: Zu den oft guten bis sehr guten Böden kommt ein mildes Klima mit vielen Sonnenstunden und ausreichendem Niederschlag in der Vegetationsperiode - also im Sommer. Dieses Klima ist unser Kapital, unser Reichtum, und das gibt es so in keiner anderen Landschaftszone der Welt. Also besteht keine Veranlassung, daran herumzunörgeln. Hier gedeihen saftige Pfirsiche und duftende Feigen, hervorragende Weintrauben, zuckersüße Melonen, herrlich blühende Mandeln und riesige Kürbisse. Edelkastanien stehen, seit die Römer sie hier eingeführt haben, so zahlreich in den Wäldern, dass sie mit ihren Früchten die einheimische Küche um eine leckere Zutat bereichert haben. Und gerade bei diesem Wetter gibt es schmackhafte Pfifferlinge in rauen Mengen. Insofern ist der Vergleich mit der Sahelzone natürlich unangemessen. Hier muss niemand Hunger leiden und verdursten, wenn es alle paar Jahre einmal ein paar Wochen nicht regnet. Die Menschen in der Pfalz müssen keine Not leiden. Jeder kann sich im Sommer vor oder hinter seinem Haus in den Schatten setzen, und in Ruhe einen Schoppen Riesling- oder Weißherbstschorle genießen. 
Das war leider nicht immer so. Nicht zuletzt weil es in der Pfalz so schön ist, weckte der Landstrich allerlei Begehrlichkeiten. Hier haben über Jahrhunderte die grausigsten Kriege getobt: Der Bauernkrieg, später der Dreißigjährige Krieg und der Pfälzische Erbfolgekrieg, um nur drei Beispiele zu nennen. Dabei wurden ganze Dörfer ausgelöscht, ganze Landstriche entvölkert. Und wenn nicht gerade gekämpft wurde, wurden die einfachen Leute trotzdem von den Landsknechten ausgeplündert. Denn es war damals nicht unüblich, einen Söldner erst am Ende des Krieges zu bezahlen, und die Versorgung der Armee ihr selbst zu überlassen. "Der Krieg ernährt den Krieg" hieß es damals. Deshalb litt die Bevölkerung auch dann, wenn ein "befreundetes" Heer durchzog weil ganz woanders Krieg herrschte. 
Aber auch in Friedenszeiten mussten die Menschen Abgaben entrichten. Weite Teile Deutschlands waren durch das auch für den Hochadel geltende Erbteilungsrecht in Kleinstaaten zersplittert, die kaum eine vernünftige wirtschaftliche Grundlage für ein Staatswesen boten, geschweige denn für den Pomp, der damals bei Hof zelebriert wurde.


Mein heutiges Ziel ist Burg Trifels hoch über Annweiler.
Da aber auch der Weg das Ziel sein soll, fahre ich Umwege, die mich ein Stück weit in den angrenzenden Pfälzer Wald führen. Hier sind die Böden sandig und mager, die Temperaturen deutlich frischer und die Niederschlagsmengen höher. Hier beginnt, auch wenn es sich in der politischen Aufteilung nicht widerspiegelt, die Hinterpfalz. Hier sind Bauerhäuser winzig, Nebenerwerbshandwerke entwickelten sich nach und nach zu kleinen Industrien: Papierfabriken, Parkettherstellung oder Bürstenbinderwerkstätten entstanden so. Typisch für ländliche Gebiete in Realteilungsgebieten mit schlechten Böden. Von irgendetwas muss man ja leben. Ich erreiche mein Tagesziel schließlich bei bedrohlich verdunkeltem Himmel. Ich lese auf dem Telefon nach, was ich über diese alte Festung wissen möchte: 
Burg Trifels war einst eine der größten und mächtigsten der zahlreichen Burgen in der Pfalz, ja in ganz Deutschland. Im 12. und 13. Jahrhundert wurden hier sogar die Reichskleinodien aufbewahrt, weil sie als so sicher und uneinnehmbar galt. "Wer Trifels hat, der hat das Reich!" sagte man damals, denn ohne Krone, Zepter und Reichsapfel galt ein deutscher König nicht als legitimer Herrscher. Als Staatsgefängnis der staufischen Herrscher beherbergte sie so manch prominenten Gast. Auch Richard I., genannt Richard Löwenherz, wurde hier für circa zwei Jahre gefangen gehalten. Erst nach Zahlung eines immensen Lösegeldes kam er wieder frei.

In diesem kleinen Landstrich standen einst 500 Burgen. Einerseits mussten die Dörfer der Bauern beschützt werden - ob sie das wollten oder nicht - andererseits befinden wir und ja im Grenzgebiet zu Frankreich. Und da wurde dann in jedes Seitental des Rheins als mögliche Aufmarschachse für feindliche Heere und zur Kontrolle der Handelswege eine Burg platziert. Und damit sich kein Händler und kein Kriegsherr stickum vorbeischlich, versah man auch jedes Seitental des Seitentals mit einer Burg und so weiter. Diese Burgen erhielt dann ein Adeliger zum Lehen. Die zur Burg gehörenden Dörfer hatten für seinen Unterhalt aufzukommen und genossen dafür in Kriegszeiten den Schutz des Ritters. So war das in der Theorie. Gehörte zur Burg aber nur ein winziger Weiler, wo die Menschen sich selbst kaum ernähren konnten, waren auch die Ritter zu relativer Armut verdammt. Nicht wenige kamen dann auf die Idee, bei Durchreisenden auf eigene Rechnung Zölle zu verlangen oder diese gleich ohne viel Federlesen auszuplündern. Gern wurden die benachbarten Territorien ausgenommen, auch das Erpressen von Schutz- und Lösegeldern war durchaus nicht unüblich. Je kleiner ein zu einer Burg gehörendes Lehen war, desto wahrscheinlicher wurde der Ritter zum Räuber - zum Raubritter.

Beim Verlassen der Burg schaue ich nach oben. Der Himmel sieht aus, als würde jeden Augenblick die apokalyptischen Reiter den Weltuntergang verkünden. Noch ist es aber trocken, also schnell den Rückweg antreten. Weil das Wetter jedoch überraschend stabil bleibt, kann ich mir die Route durch die Weindörfer der südlichen Weinstraße nicht verkneifen. Hier ist es um so vieles schöner als auf der Autoschnellstraße. Vielleicht finde ich ja in Eschbach den seit Jahren vermissten Zebraesel. Der Anblick der kleinen, oft liebevoll restaurierten Fachwerkhäuschen in den putzigen Dörfern der südlichen Weinstraße ist für mich ein Stück Lebensqualität. Ich wohne dort, wo andere Menschen Urlaub machen. Beim Durchfahren von Klingenmünster, Ilbesheim, Birkweiler, Siebeldingen, Gleisweiler und all den anderen Gemeinden entdecke ich seit Jahren immer wieder für mich Neues. Mal ist es ein besonders prächtiger Dorfbrunnen, der mein Aufmerksamkeit anzieht, dann wieder ein kleines Barockkirchlein oder ein hübsches, mit Blumen geschmücktes Pfarrhaus. Und bei einer dieser Erkundungsfahrten stieß ich vor Jahren in Eschbach auf die Esel. Da ich bereits an anderer Stelle davon berichtet habe, kann ich mich hier kurz fassen: Bei einem Dorffest stand auf einem kleinen Platz ein wie ein Zebra bemalter Esel herum, doch den eigentlichen Standort dieser Skulptur, den Heimathafen wenn Sie so wollen, habe ich nie gefunden. Auch Freunde von mir, extra mit Bahn und Bus von weit her angereist und dank einer Internetrecherche bestens für die Eseljagt präpariert, wurden nicht fündig. Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. 

Nicht nur die Adeligen unterlagen den Zwängen der Realteilung, auch die Besitztümer der irgendwann freien Bauern wurden unter den Erben aufgeteilt. Das hatte zur Folge, dass die Höfe immer kleiner und kleiner wurden und die Bauern von Generation zu Generation immer ärmer. Schon vergleichsweise kleine äußere Anlässe reichten dann aus, um selbst in diesem Gunstraum bei der Landbevölkerung große Not auszulösen. So war es absurderweise eine besonders üppige Weinernte im Jahr 1934 mit der eine solche Krise begann: Der aus dem Überangebot resultierende Preisverfall war es, der viele Winzerbetriebe in große Bedrängnis brachte. Und so kamen die damaligen Machthaber auf die Idee, mit dem Begriff "Deutsche Weinstraße" einen Markennamen einzuführen, mit dem sich gleichermaßen Wein und Fremdenverkehr vermarkten lassen. Den armen Winzern brachte das bis heute Mehreinnahmen durch den verbesserten Absatz für ihren Wein und die Vermietung von Fremdenzimmern. Den Nazis brachte es Reputation und große Beliebtheit in der Region, und das fast zum Nulltarif. Der damalige Gauleiter Bürckel, auch von ihm war hier bereits die Rede, eröffnete die Weinstraße in Bad Dürkheim mit großem Pomp und einer Rede von "Kampf und Volk - Wein und Wahrheit" am 19. Oktober 1935. Und am 20. Oktober gab es dann das deutschlandweite "Fest der Traube und des Weines". Zum Wohl - die Pfalz! 

In Eschbach angekommen finde ich zwar zwei weitere, mir bis dahin unbekannte Esel, doch der Zebraesel bleibt verschollen. Frustriert trete ich den Rückzug an. In Diedesfeld erwischt mich dann doch noch ein Regenschauer, zum Glück ist ein Wartehäuschen des Regionalverkehrs in der Nähe, als es losgeht. Hier überstehe ich den Guss. Dann fahre ich zurück in mein Neustadt - seit 1935 "an der Weinstraße".

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Zwei der Facharbeiten meiner Schüler im Erdkunde-LK möchte ich hier auch nicht unerwähnt lassen, sie haben viele Ideen geliefert. Bei der einen ging es um Strukturwandel im Weinbau am Beispiel eines Betriebes, bei der anderen um die Wiederbesiedlung eines einst wegen Kriegshandlungen wüst gefallenen Dorfes im Pfälzerwald.