Sonntag, 4. September 2016

17. Die schönsten fünfzehn Kilometer der Welt

Ich streife durch meine Wahlheimat und zwischen meinen Beinen gurgelt, wie so oft bei meinen Streifzügen, markant und untertourig der V2. Es ist Spätsommer, die Sonne scheint, der warme Wind bläst durch meine Jacke und es geht mir gut. Ich bin auf der Jagd nach Motiven für mein aktuelles Fotoprojekt.

Jedes Jahr in den sechs Wochen des Sommers, in denen ganz plötzlich alle Arbeitnehmer Deutschlands mit mir tauschen möchten, stelle ich mir ein Thema, das ich dann fotografisch bearbeite. Meistens arbeite ich dann auch in den Wochen bis zu den Herbstferien in jeder freien Minute daran. In diesem Jahr heißt es „Panorama“. Und damit meine ich nicht die Panoramen, wie sie das Apfelfon inzwischen recht ordentlich hinbekommt. Wir reden hier vom kompletten Programm: Stativ, Nodalpunktadapter und ein neues Kameragehäuse mit einem CCD-Chip von geradezu atemberaubender Auflösung. Endlich zeigt sich, dass meine Kaufstrategie in Bezug auf Fotokram der letzten 30 Jahren genau richtig war: Lieber nur eine Festbrennweite als ein Zoombjektiv von minderer Qualität. Die Festbrennweite aber dann bitte hochwertig. Gerne auch gebraucht und ohne Autofocus, wer braucht bei Makro oder Landschaft schon Autofocus. Bei der hohen Auflösung meiner Panoramabilder würden Objektivfehler gnadenlos sichtbar - ich sage nur: „chromatische Aberration“! Näht man die Einzelbilder dann abends auf dem Rechner zusammen, entstehen Panoramen von einem Detailreichtum, der einem die Sprache verschlägt. Leider entstehen auch Datenmengen, die man nur noch schwer mit irgendwem teilen kann. Unkomprimierte TIFF-Dateien wiegen da schon einmal locker 1,5 GB. Selbst als komprimierte JPG-Versionen kann ich sie in Originalgröße nicht auf meinen Flickr-Account hochladen, weil sie schlicht zu groß sind. Aber egal: Ich tue das ja in erster Linie für mich und nicht für andere. Vielleicht lasse ich ja irgendwann einmal einen Kalender daraus herstellen.

Heute tuckere ich also an der nördlichen Weinstraße entlang bis Bad Dürkheim. Ich plane, zunächst mögliche Standorte für Panoramen nur auszukundschaften. Mittags mag ich keine Landschaftsfotos machen. Die Sonne steht dann hoch am Himmel, das Licht ist gleißend und hart. Schatten sind kaum sichtbar und die Landschaft wirkt flach. Auf dem Rückweg, so hoffe ich, kann ich dann bei günstigeren Lichtverhältnissen eine richtige Liste abklappern. Hinter Bad Dürkheim gibt es eine schöne Straße, die quer durch den Wald bis nach Altleiningen führt. Sie beginnt an einem Schild, das Fahrzeugen mit einem Gewicht von über zwei Tonnen die Durchfahrt untersagt.


Das lockt mich natürlich besonders an. Schilder wie dieses sind für mich gleichbedeutend mit Wegweisern zu schönen Moppedstrecken, quasi Gütesiegel. Hinter ihnen befinden sich nach meiner Erfahrung immer kurvenreiche, schmale Landstraßen mit wenig Verkehr die mich durch eine bezaubernde Landschaft geleiten. Hängen am gleichen Mast dann noch „Forstwirtschaftlicher Verkehr frei“ und „Ende der Ausbaustrecke“, ist das für den motorisierten Zweiradfahrer wie ein Sechser im Lotto. Das ist hier zwar nicht der Fall, aber ich kenne die Route: kommt noch! Und tatsächlich passiere ich nach wenigen Kilometern ein Ausflugslokal, neben dem die ersehnte Schilderkombination hängt. Grinsend schalte ich in den fünften Gang und pöttere das Sträßchen entlang. Immer wieder begegne ich Gruppen von Wanderern. Wandern ist sehr beliebt im dieser Gegend, und zwar durchaus auch bei jungen Leuten. Das liegt sicher nicht nur an dem ausnehmend gut ausgebauten und vielfältigen Wanderwegenetz. Auch die mannigfaltigen  Sehenswürdigkeiten allein locken kaum so viel Jungvolk in den Wald. Aber da sind ja noch dutzende Hütten des Pfälzerwaldvereins. Die werden oft ehrenamtlich bewirtschaftet und hier gibt es ausgezeichnete, wenn auch einfache Gerichte aus der deftigen Pfälzer Küche, sowie kühle Getränke. Die Hütten sind an strategisch wichtigen Plätzen im Wald gleichmäßig verteilt und hier sitzt es sich bei meist prächtiger Aussicht herrlich in der Sonne. Geselligkeit, Wurst und Wein - so lässt man es sich hier in der Pfalz gut gehen.

Da ich leise und relativ langsam fahre, fühlt sich keiner der Wanderer durch mich gestört und ich ernte freundliches Kopfnicken und hin und wieder auch mal ein Lächeln. Meine Laune verbessert sich weiter. Neben der Strecke wachsen beeindruckend große Pilze, wie in einem Zauberwald. Der Duft von Kiefernharz und Wildblumen steigt mir in die Nase. Es riecht immer so gut im Pfälzerwald!

In Höningen bewundere ich noch die Ruinen eines alten Klosters, dessen Fassadenteile die Bewohner malerisch in die aktuelle Wohnbebauung mit einbezogen haben, dann lichtet sich die Landschaft - Wald weicht Wiese - und vor mir liegt Altleiningen. Über dem Ort thront eine mittelalterliche Burgruine, deren wieder aufgebauten Teile heute als Jugendherberge dienen.

Im Veranstaltungssaal der Burg habe ich bereits der Musikrevue eines mir bekannten französischen Sängers beiwohnen dürfen. Gleich mehrere Amateurgruppen nutzen den schönen Spielort für ihre Veranstaltungen, und so hat das kleine Altleiningen ein durchaus ansehnliches kulturelles Programm aus Musik und Theater zu bieten. Im Burggraben befindet sich kurioserweise das Freibad des Ortes, und aus dieser Kombination - Burg und Schwimmbecken - möchte ich irgendwie ein Motiv für mein erstes heutiges Panorama herauskitzeln.

Gesagt - getan. Auf dem Parkplatz der Burg steht ein Büdchen. Im Ruhrgebiet würde man es vielleicht Trinkhalle nennen, doch in der Pfalz heißt es schlicht Kiosk. Hier decken sich die Schwimmbadbesucher und die Gäste der Jugendherberge mit Erfrischungen und Zuckerzeug ein. Ich parke daneben das Mopped und erkunde das Terrain. Das Schwimmbad ist bei dem tollen Wetter natürlich bestens besucht. Plötzlich ist mir gar nicht wohl bei dem Gedanken, vor der Jugendherberge und mit Blick auf das Becken in aller Seelenruhe ein Stativ mit Kamera aufzubauen. In Neustadt hat es im Freibad schon einmal richtigen Ärger inclusive Polizeieinsatz gegeben, weil jugendliche Besucher mit Handys herumgeknipst haben. Ich decke mich am Büdchen erst einmal mit einem Kaffee und einem Muffin ein und lasse mir das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen. Diesen Ärger riskiere ich lieber nicht. Wer will schon als Spanner verhaftet werden. In meinem Beruf geht so etwas garnicht. Vielleicht komme ich lieber noch einmal her, wenn das Schwimmbad geschlossen ist.


Etwas frustriert bin ich schon, als ich wieder auf das Mopped klettere. Doch das ändert sich rasch, denn ich habe ja wieder die schöne Strecke nach Bad Dürkheim vor mir. Die genieße ich in vollen Zügen. Mir fällt auf, dass sportliche Radfahrer hier, anders als in meiner eigentlichen Heimat, nicht in großen Pulks auf der Straße fahren, sodass man sie nur schwer überholen kann ohne sie oder sich selbst zu gefährden. Im Gegenteil: Hier wird in langen Ketten geradelt, Radfahrer wie an einer Perlenschnur aufgereiht. Der Fahrer an der Spitze einer dieser Ketten kann die nächste Kurve schon einsehen und gibt mir völlig selbstverständlich per Handzeichen zu verstehen, dass ich gefahrlos überholen kann. Zum Dank dafür überhole ich mit besonders großem seitlichen Sicherheitsabstand. Ich bin als Student und auch in meinen ersten Berufsjahren lange genug selber recht ambitioniert Fahrrad gefahren. Ich weiß, wie beklemmend es sich auf einem Velo sitzend anfühlt, wenn der motorisierten Verkehr ohne genügenden Sicherheitsabstand vorbeibrettert.

In Bad Dürkheim wird gerade der Wurstmakt aufgebaut. Eine überdimensionale Digitaluhr zählt den Countdown bis zum Beginn: Noch sechs Tage. Anders als der Name der Veranstaltung vermuten lässt, geht es dabei nur ganz nebenbei um Wurst. Der Dürkheimer Wurstmarkt ist nicht mehr und nicht weniger als das größte Weinfest der Welt. Mit angeschlossenem Rummel und natürlich auch mit Wurst. Aber vor allem Anderen: mit Wein. Solcherart Festivitäten sind mir eigentlich wurst. Deshalb habe ich den Wurstmarkt auch immer gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Doch vielleicht sollte ich mir das versuchsweise einmal geben. Und sei es nur, um eine Geschichte darüber zu schreiben. Den Neustadter Winzerfestumzug habe ich ja auf diese Weise auch kennen und schätzen gelernt.

Irgendwo zwischen Neustadt und Dürkheim steht direkt an der Weinstraße ein Hinweisschild "Pfalzblick" und zeigt in einen Wingert. Möglicherweise kann ich da noch ein schönes Panorama anfertigen. Das Licht ist inzwischen deutlich angenehmer und die Landschaft wirkt viel plastischer als um die Mittagszeit. "Pfalzblick" ist ein Ausflugslokal mitten im Wald und auf halber Höhe des Haardtgebirges. Der Clou: man kann bis vor die Türe fahren, und so muss ich das schwere Stativ nicht kilometerweit durch die Gegend schleppen. Die Aussicht von dort ist grandios. Bei klarem Wetter kann man von hier bis zum Odenwald sehen. Darauf freue ich mich jetzt.

Der schmale Weg führt in der Hügellandschaft der Weinstraße mitten durch die Weingärten. In allen Farben blühende Ackerwildkräuter, aber auch so mancher Rosenstock, säumen die Wingertränder. Die vielen Rosenstöcke neben den Reben sind mir schon öfter aufgefallen. Ich frage mich langsam, ob die Rosen vielleicht nicht nur zu Dekorationszwecken gepflanzt werden. Möglicherweise treiben sich auf denen ja Schädlinge herum, die sonst an die Reben gehen würden. Das muss ich bei Gelegenheit mal einen Winzer fragen.

Der Parkplatz des Pfalzblick ist rappelvoll. Ich stelle das Mopped hinter einem Kleinwagen ab in der Hoffnung, dass ich schneller mit dem Bild fertig werde als der Besitzer des Wagens mit seinem Kuchen. Am Aussichtspunkt sondiere ich erst einmal die Lage. Die Fernsicht ist nicht umwerfend, aber in Ordnung, die Gestaltungsmöglichkeiten für ein Bild wegen der vielen geparkten Autos eingeschränkt. Doch etwas anderes irritiert mich: Dutzende Großlibellen, es müssen über hundert sein, ziehen in meinem Gesichtsfeld ihre komplizierten Bahnen. Die jagenden Flugkünstler sind dabei wegen ihrer zwei unabhängig voneinander beweglichen Flügelpaare zu Manövern in der Lage, die kaum ein Vogel oder fliegendes Insekt jemals schaffen würde. Und das scheinen sie mir jetzt beweisen zu wollen. Hier im Berghang, abseits von jedem stehenden Gewässer, hätte ich so etwas nicht erwartet. Ich bin völlig fasziniert von diesem Anblick.

Ein Spielfilm fällt mir ein, den ich in den Ferien gesehen habe. In einer Szene schaut ein Fotograf durch sein Teleobjektiv und entdeckt einen Leoparden. Aufgeregt fordert er einen neben ihm sitzenden Mitarbeiter eines Bildmagazins auf, ebenfalls durch die Kamera zu schauen. Eine ganze Weile beobachten die beiden Männer nun abwechselnd den Leoparden durch das Teleobjektiv, bis der Magazinmitarbeiter den Fotografen fragt: „Wann drückst du auf den Auslöser?“. Und der antwortet: „Manchmal gar nicht. Wenn mir ein Moment gefällt - ich meine: Mir. Persönlich. Dann will ich nicht, dass mich die Kamera irgendwie ablenkt. Dann will ich einfach nur darin verweilen.“

Ich stehe noch ein paar Minuten an dem Aussichtspunkt und beobachte die Geschwader der kleinen Luftakrobaten. Dann steige ich auf das Mopped und fahre zurück nach Neustadt. Das Panorama am Pfalzblick werde ich an einem anderen Tag fotografieren.

Nachtrag (zwei Tage später):

Mittwoch, 17. August 2016

16. Der Aftershow-Blues

Ich streife durch die unendlich scheinenden Weiten meiner Festplatte, und stoße dabei auf die Digitalversion des Fotobuchs, das ich für den Regisseur des diesjährigen Sommerstücks der Neustadter Schauspielgruppe gebastelt habe. Es wurde ihm am Abend der Dernièrefeier von mir überreicht, und alle hatten unterschrieben: Die phantastischen Schauspieler, die großartigen Techniker, die überaus zuverlässige Souffleuse, die nette Kassenfrau und sogar der tolle Dame vom Toilettenwagen. Man macht sich ja keine Vorstellung davon, wie wichtig (und schwierig) es ist, dass bei so einer Veranstaltung die Toiletten immer tiptop sauber sind.

Da einige der Beteiligten montags in ihren Brot-und-Butter-Berufen arbeiten müssen, hatten wir die Dernièrefeier von Sonntag auf Samstag vorgezogen. Es war also eine Mogelpackung: Wir feiern die Dernière, noch bevor diese stattgefunden hatte. Aber im Grunde war das eine weise Entscheidung. Bei der Dernièrefeier wird einem immer bewusst, dass die Party endgültig vorbei ist. Das Feriensommerlager ist zu Ende. Man nimmt Abschied und wird rührselig. Mit dieser Regelung lief das etwas eleganter: Da kommt ja noch eine Vorstellung. Die ganzen, über Monate ausgedachten und ausgeknobelten Dernièrescherze stehen uns noch bevor, darauf kann man sich noch freuen. Und dann gibt es ja auch noch das kleine Feuerwerk am Ende der letzten Vorstellung. Also kein Grund, sich bei dieser Feier zu grämen. Es waren, soweit ich das beurteilen kann, alle Anwesenden fröhlich und ausgelassen.

„Ausgelassen und fröhlich“ sind dann auch genau die Begriffe, mit denen ich die ganze Proben- und Spielzeit charakterisieren würde. Dabei hatte die Saison ganz komisch begonnen. Kurzfristige Absage eines Regisseurs, Suche nach einem anderen, neuen Stück („Die Nashörner“ von Eugène Ionesco) Terminfindungs- und Rollenbesetzungsprobleme und schließlich das dauerhaft schlechte Wetter während der Proben. Wir sind eine Freilichtbühne. Wenn es wie aus Kübeln gießt, dann probt es sich so schlecht. Trotz oder vielleicht genau wegen dieser Schwierigkeiten entstand so ein unglaublich guter Zusammenhalt im Ensemble. Jeder brachte sich ein mit Ideen oder handwerklichen Fähigkeiten. Der Regisseur bemalte höchstpersönlich die Möbel, ein Darsteller zeichnete Entwürfe für die Kostüme, alle bastelten zusammen die Nashornoutfits und ich schrieb meine erste Auftragsarbeit: ein Essay über Nashörner, das dann in gekürzter Form tatsächlich im Programmheft abgedruckt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht einmal, was ein Essay überhaupt ist.


Niemand drückte sich vor unangenehmen Arbeiten. Und wenn doch, wurde er/sie bei nächster Gelegenheit scherzhaft darauf hingewiesen und strengte sich von da ab doppelt an: „Sooo…. Und alle die, die letzte Woche nach dem Wegräumen der Scheinwerfer noch trocken waren, kümmern sich jetzt bitte um der Aufbau und die Nummerierung der Stühle!“. Die Nashornherde trampelte jedes Wochenende gemeinsam durch den Park, und das über Monate. Darüber hinaus haben wir viel private Zeit miteinander verbracht: wir waren in diesem halben Jahr sicher eine tragende Säule der einheimischen Gastronomie. Und auch die Nachbarn der Villa Böhm werden unsere nächtlichen Gespräche vermissen, die wir, auf der Bühne liegend und den Himmel, die Sterne und die ISS beobachtend, geführt haben. Mehrfach kamen so einige Nashörner in den Genuss, der Sonne beim Aufgehen über dem Park zuzusehen. Völlig selbstverständlich fanden sich hier Leute unterschiedlichsten Alters zu einer Gruppe zusammen, die sich nach ein paar Monaten fast so anfühlte wie eine Familie. Eine Vertrautheit bildet sich, ohne die so manches Detail der Inszenierung gefährlich oder überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Einer der Schauspieler bezeichnete dieses Gefühl als ein „inneres Puddingkochen“. Treffender kann man es wohl nicht ausdrücken.

Dann kam er aber doch, der letzte Tag, die Dernière. Alle legten sich noch einmal besonders ins Zeug. Kleine aber feine Scherze wurden in die Texte und Handlungen eingebaut, gerade so, dass das Publikum es nicht merkt. Einzelne Wörter wurden ausgetauscht und plötzlich standen zwei zusätzliche Nashörner auf der Bühne. Nur die anderen Spieler und die Techniker bekamen das überhaupt mit und immer wieder musste sich jemand auf die Knöchel beißen, um nicht laut loszulachen. Dann noch Applaus, Feuerwerk, noch einmal Applaus und das war’s.

Die Scheinwerfer wurden weggeräumt, die Requisiten verstaut, die letzten Abschiedsgeschenke ausgetauscht und dann passierte es doch noch, was eigentlich vermieden werden sollte: Tränen kullerten und selbst die Hartgesottenen hatten plötzlich einen dicken Kloß im Hals. So richtig umgehen kann damit keiner. Wie immer versprachen wir uns baldiges Wiedersehen - manchmal klappt das sogar. Meistens aber nicht so bald.

Zeit, dass die Vorbereitungen zum Winterstück losgehen.

P.S.: Hiermit bedanke ich mich bei Klaus, bei dem ich schon vor Jahren den Begriff "Aftershow-Blues" gelesen habe. Danke Klaus. Das trifft es so gut, dass ich kein anderes Wort dafür verwenden möchte.

Samstag, 21. Mai 2016

15. Die wütenden Nashörner

„…meinst Du, so als Biologielehrer (…) könntest Du vielleicht für’s Programmheft einen Essay über Nashörner schreiben? Irgendwas lustiges mit wissenschaftlichem Anstrich? (…) kann auch pseudowissenschaftlich, ironisch, lustig sein.“
Na das ist mir jetzt aber reichlich diffus. Mit „wissenschaftlichem Anstrich“, „ironisch“ UND „lustig“? Das klingt mir sehr nach einer Reklame für in Schokoladeneier verpackte Spielsachen zum Selberbauen: „Was spannendes, was zum Spielen und Schokolade!" Zunächst muss ich mich erst einmal schlau machen, was genau überhaupt ein Essay ist. Ich hatte in der Schule nur Deutsch Grundkurs bei Herrn Karpstein und der hatte es mehr mit Lyrik. Die Wikipedia klärt mich auf: „Der Essay (seltener das Essay; Plural: Essays), auch: Essai, ist eine geistreiche Abhandlung, in der wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Phänomene betrachtet werden. Im Mittelpunkt steht die persönliche Auseinandersetzung des Autors mit seinem jeweiligen Thema. Die Kriterien wissenschaftlicher Methodik können dabei vernachlässigt werden; der Schreiber hat also relativ große Freiheiten.“ Das spricht mich an. Ich glaube, wir haben einen Deal. Gekauft! Mach’ ich. Ob’s wirklich geistreich wird, mag der Leser entscheiden.

Und so streife ich also durch meine digitale Umgebung auf der Suche nach Themen für ein Essay über Nashörner. Mit wissenschaftlichem Anstrich. UND ironisch. UND lustig. Und ja: Ich streife, denn mein Blog heißt „Streifzüge“, und ich kann ihn ja schließlich nicht für jede Folge umbenennen.

Beginnen wir mit der Biologie:
Es existieren fünf rezente Arten in dieser Familie: Breit- und Spitzmaulnashorn in Afrika sowie Panzer- Java- und Sumatranashorn in Asien. Die beiden afrikanischen Arten sowie das Sumatra-Nashorn besitzen zwei Hörner, die verbleibenden zwei asiatischen Arten nur eines. Darauf werden wir später im Stück noch zurückkommen. Sie sollten sich das gut einprägen, denn darüber schreiben wir in der nächsten Woche einen Test. Genau diese Hörner sind übrigens ein Problem für die Tiere. Betrachtet man die früheren und die aktuellen Verbreitungsgebiete der Arten, so fällt auf, dass der Lebensraum dieser wunderbaren Tiere geradezu pulverisiert wurden.

Im Jemen schnitzt man aus dem Horn repräsentative Dolchgriffe, in Ostasien spielt es eine wichtige Rolle in der traditionellen Medizin. Auch als Aphrodisiakum soll es Verwendung finden, wenn auch ohne jeden traditionellen oder gar wissenschaftlichen Hintergrund. Für 30.000 US$ pro Kilogramm wird es gehandelt, obwohl die berühmten blauen Pillen nachweislich wirkungsvoller und, verglichen mit den Hörnern der Rhinocerotidae, deutlich günstiger sind. Nashörner werden nicht nur wegen ihrer Hörner gewildert, sie stehen auch als sogenanntes Bushmeat auf so mancher Speisekarte. Bitte beachten Sie deshalb auch die Kochrezepte am Ende dieses Essays. Die Tiere standen noch vor nicht allzu langer Zeit am Rande der Ausrottung. Aber die Bestände haben sich etwas erholt. Nicht zuletzt, weil in der letzten Zeit immer wieder auch Nashörner im Park der Villa Böhm gesichtet wurden. Um welche der fünf Arten es sich dabei handelt, ist allerdings umstritten.
Als reine Vegetarier haben Nashörner einen bis zu 20 Meter langen (!) Magen-Darmtrakt. Ihr Herz kann bis zu fünf Kilogramm wiegen und die Bullen besitzen kein Skrotum. Ihre Hoden liegen im Leibesinneren. Nashörner leben oft einzelgängerisch, die Arten der Savannen rotten sich jedoch zu matriarchalisch organisierten Herden zusammen. Ihre gefährliche Angriffslust ist ebenso legendär wie frei erfunden. Sie meiden die Nähe zum Menschen. Kommt es jedoch in seltenen Fällen zu einem Angriff, ist besonders mit den Bullen nicht zu spaßen. Die massigen Tiere erreichen Geschwindigkeiten von über 45 km/h und nutzen als Waffen nicht nur ihre Hörner sondern auch die kräftigen Zähne.
Wollen Sie das wirklich wissen? Ich glaub’s nicht!


Kommen wir zu einer exemplarischen Kulturgeschichte der Nashörner:
Die ältesten bekannten Darstellungen der beindruckenden Tiere finden sich in Höhlenmalereien der Jungsteinzeit. Damals waren es natürlich noch die inzwischen ausgestorbenen Wollnashörner.

Sehr bekannt ist auch der Holzschnitt Albrecht Dürers aus dem Jahr 1515. Bemerkenswert ist, dass Albrecht Dürer niemals ein Nashorn zu Gesicht bekommen hat. Er stellte das Tier ausschließlich nach den Schilderungen eines Reisenden dar. Man beachte das Horn im Genick.

Auch Salvador Dali hat sich den Tieren künstlerisch genähert, von ihm stammt eine spektakuläre Skulptur, die den Dürer-Holzschnitt zitiert. Auch hier: Ein Horn im Genick.

Sie lesen ja immer noch. Möchten Sie sich nicht lieber mit Ihrem Nachbarn unterhalten?

Kochrezepte mit Nashörnern:
Wie oben bereits erwähnt sind Nashörner durchaus essbar. In der einschlägigen Literatur finden sich allerdings nur wenige Rezepte. Hier einige Beispiele:

Nashorn in Burgunder
Etwas für die festlichen Tage, vorausgesetzt, das Nashorn fühlt sich in Burgunder wohl.
Nashorn waschen und trocknen, in passendem Schmortopf mit 2000 Litern Burgunder, 6 bis 8 Zwiebeln, 2 kleinen Mohrrüben und einigen Nelken 8 bis 14 Tage kochen, herausnehmen, abtropfen lassen und mit Petersilie servieren.

Nashorn im Schlafrock
Das afrikanische Nashorn fängt man hauptsächlich für ein bekömmliches ostfriesisches Nationalgericht. Das Nashorn wird 14 Tage gekocht und mit einer Prise Gewürznelken ganz klein gewiegt, in einen ausgerollten Nudelteig gewickelt und in feuerfester Form bei massiger Hitze 8 bis 9 Stunden gebacken. Hagebuttenmarmelade darüber geben und heiß servieren.

Sie könnten sich auch, anstatt zu lesen, in unserem Freiluftfoyer mit einer Brezel versorgen. Die sind wirklich gut. Oder zum Beispiel einen Sekt trinken. Hier treffen Sie ganz sicher auch nette Leute.


Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Nashörner
http://www.tagesspiegel.de/wissen/ost-afrika-die-rhinos-kehren-zurueck/1966504.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Rhinocerus
Rezepte verändert nach: Loriots großer Ratgeber
Das Bild des Dali-Nashorns stammt von Manuel González Olaechea y Franco