Dienstag, 10. Juli 2018

23. Das Sommerthema

Gleich verschwinden die Plakate im
Wertstoffsack.
Ich streife durch meine Stadt, und dieses Mal musste ich dafür überhaupt nicht weit laufen. Ich treibe mich mal wieder im Park der Villa Böhm herum. Den Weg dorthin kennt ihr ja bereits. Und um es kurz zu machen: Ich habe den Aftershow-Blues. Das Sommerstück ist vorbei. Es war so eine schöne Inszenierung und das Publikum hat das Stück wirklich gut angenommen! Die letzten fünf Vorstellungen waren praktisch ausverkauft und wir mussten noch weitere Stühle dazustellen. Das hat wirklich gut getan! Auch der Zusammenhalt im Ensemble war großartig. Wie in einer Familie. Bis eben habe ich mit meinen Freunden aus der Neustadter Schauspielgruppe die Plakate von den Straßenlaternen entfernt. In dem Augenblick, als ich sie in die Wertstoffsäcke gestopft habe, hat es mich innerlich fast zerrissen.

So viel Arbeit steckt da drin - man macht sich ja als Außenstehender keine Vorstellung davon! Das geht nur mit einem riesigen Ensemble auf und hinter der Bühne. Allein an diesen Plakaten haben zwei Personen gewerkelt: Den Scherenschnitt von Cyrano habe ich aus einem extra dafür aufgenommenen Profilfoto mit Fotoshop erzeugt. Nicht wirklich schwierig, aber wenn man, wie ich, so gar keine Ahnung von Photoshop hat, sitzt man dennoch eine ganze Weile daran und wühlt sich durch gefühlt eine Million Menüpunkte. Eine Grafikerin hat dann damit die Plakate gebaut. Für die Nase des Cyrano wurde eigens eine professionelle Maskenbildnerin mit ins Boot geholt. Weil sie ihre ersten Gehversuche im Zusammenhang mit ihrem Beruf im Keller der Villa Böhm - also im amtlichen Hauptquartier der Neustadter Schauspielgruppe - gemacht hat, hat sie ihr professionelles Know-How selbstverständlich ehrenamtlich und kostenlos eingebracht. Wie alle hier. So standen zum Beispiel in diesem Jahr allein drei ausgebildete Theaterpädagogen auf und hinter der Bühne und betreuten Teilbereiche der Regie. Dazu viele alte Theaterhasen mit Jahrzehnten an Bühnenerfahrung. Der Tontechniker war vor seinem beruflichen Ruhestand Profi auf diesem Gebiet, und das merkt man auch. Die Kulissen bauen, zumindest teilweise, gelernte Handwerker und angemalt werden sie nicht von irgendwem, sondern von einer bekannten Künstlerin aus der Region. Selbst die blutjungen Nachwuchsschauspieler hatten teilweise schon mehrere Jahre Erfahrung auf dem Buckel.
Wir sind Amateure, keine Laien!
das sympathische Sommerensemble 2018 (teilweise)

Um mich vom Verlust meiner Sommerfamilie abzulenken mache ich Insektenbilder. Als studierter Biologe und Geograph sind eigentlich die Landschafts- und Architekturfotografie meine Domänen. Und die Makrofotografie. Klassische Bienchen- und Blümchenbilder mit dem Ziel, die bestimmungswichtigen Merkmale festzuhalten. Die Gestaltung ist dabei erst einmal nicht so wichtig. Dennoch entwickeln solche Bilder trotzdem eine gewisse Ästhetik, einfach weil die Geschlechtsorgane der höheren Pflanzen und die Kerbtiere so schön sind. Außerdem sind die Outtakes manchmal bezaubernd: Man sieht zwar keine bestimmungswichtigen Details, aber plötzlich schaut einem ein Schmetterling oder eine Gottesanbeterin direkt in die Augen. Atemberaubend! Damit habe ich mich schon viel zu lange nicht mehr beschäftigt. Alla dann: Ferienthema 2018 ist die dokumentarische Makrofotografie. Im Park der Villa Böhm gibt es ein geradezu hinreißend verwildertes Blumenbeet. Dort beobachte ich schon seit Wochen die Schmetterlinge und Wildbienen und hier beginne ich meine Exkursion in die Welt der Kleintiere. Doch die Qualität der entstehenden Bilder hält sich in überschaubaren Grenzen. Habe ganz schön viel verlernt, in den letzten Jahren.

Etwas frustriert steige ich auf’s Mopped. Der Weg führt mich zunächst auf einen bereits beschrieben Umweg. Die ganze Strecke darf nur mit maximal 30 km/h, stellenweise auch weniger, befahren werden. Und so tuckere ich gemütlich und untertourig das Sträßchen hinauf. Ich schwelge in Erinnerungen. Zum Beispiel an das hübsche Ausflugslokal in dem lauschigen Tal, wo ich mir erst vor Kurzem den Bauch vollgeschlagen habe. Während ich so träumend das Sträßchen entlangrolle streift mein Blick einen großen Doldenblütler, an dem sich auffällig viele Schmetterlinge tummeln. „Augenblick mal. Das ist doch genau das, was du suchst.“ muss ich mir selbst ins Gedächtnis rufen. Es dauert trotz der niedrigen Geschwindigkeit einige hundert Meter, bis ich eine geeignete Stelle zum Drehen finde. In der Nähe der Umbellifere biegt ein kleiner Forstweg ab. Dort kann ich den Boxer abstellen und mich mit der Kamera zu Fuß auf den Weg machen. Tatsächlich tummeln sich an den Blütenständen der Pflanze nicht nur die auffälligen orangefarbenen Kaisermäntel. Es finden sich dort auch Fliegen, mehrere Arten von Schwebfliegen und diverse Käfer ein. Insgesamt zähle ich fast ein Dutzend Arten, und das an nur einer einzigen Pflanze. Warum eine weitere Engelwurz, die nur zehn Meter weiter ihre Dolden präsentiert, völlig sexlos und unbestäubt bleibt ist mir ein Rätsel.

Der Kaisermantel schaut, aus der Nähe betrachtet,
ganz schön dumm aus der Wäsche.
So langsam erinnere ich mich an die für die Insektenfotografie notwendigen Zutaten: Neben einem ordentlichen, langbrennweitigen Makroobjektiv mit 1/2 bis 3/4 zugezogener Blende und einem Blitzgerät braucht man vor Allem Geduld und Beobachtungsgabe. Welche Blüte an einer Pflanze gibt besonders viel Nektar, wird also häufiger besucht? Vor dieser Blüte legt man sich bewegungslos auf die Lauer und wartet. Den Tieren hinterherzujagen bringt nichts, damit schlägt man sie nur in die Flucht. Tatsächlich gelingen mir einige Aufnahmen, mit denen ich die Lepidoptera später zuhause bestimmen kann. Außerdem gelingt mir noch ein schönes „Schau mir in die Augen, Kleines“-Bild. Ich hatte fast schon vergessen, wie beglückend und entspannend das Abtauchen in diese Welt ist.

Wieder auf dem Motorrad fahre ich das Sträßchen bis zu dem an seinem oberen Ende gelegenen Parkplatz. Von dort aus nehme ich eine lauschige Kreisstraße, die mich mit sanften Kurven über eine Strecke von fast zehn Kilometern quer durch den Wald nach Wachenheim bringt. Hier biege ich nach links ab Richtung Bad Dürkheim. Doch dann mache ich gleich wieder ein kleiner Abstecher: Anstatt die Stadt auf dem direkten Weg zu durchqueren biege ich ab und bin mit einem Mal auf dem Holzweg. Der heißt wirklich so! Zunächst geht es durch ein Wohngebiet, und plötzlich bin ich wieder mitten im Wald. Es gibt mitten in Bad Dürkheim einen bewaldeten Berg, der fast vollständig von der Kurstadt und ihren Vororten umgeben ist. Den lasse ich das Fahrzeug jetzt erklimmen. Oben angekommen stehe ich vor der Klosterruine Limburg. Da wird heute geheiratet. Ein Schild an der Klostertüre fordert die Hochzeitsgäste auf, hier auf die Abholung durch den Standesbeamten zu warten. Da ich aber mit der Hochzeit nichts zu schaffen habe, trete ich ein und finde mich in einer ziemlich großen Kirche ohne Dach wieder. Im Inneren wachsen Platanen und es finden sich kaum noch Hinweise auf das Spektakel, welches hier noch vor wenigen Tagen stattgefunden hat: Theater unter freiem Himmel. Das „Theater an der Weinstraße“ hat in der malerischen Ruine seinen Stammsitz. In diesem Jahr gab es mit dem „eingebildet Kranken“ von Molière einen echten Schenkelklopfer. Natürlich hat es sich das Sommerensemble der Neustadter Schauspielgruppe nicht nehmen lassen, am spielfreien Wochenende fast geschlossen dort aufzuschlagen, um sich über die klassischen Komödie zu amüsieren und um der befreundeten Theatergruppe unsere Aufwartung zu machen. Schließlich wurde das Theater an der Weinstraße vor über 40 Jahren von ehemaligen Mitgliedern der Neustadter Schauspielgruppe gegründet. So erzählt man es sich zumindest. Den Wahrheitsgehalt dieser Erzählung konnte ich bislang nicht überprüfen.

Bühnenabbau auf der Limburg
Die Inszenierung fand ich sehr gelungen, nicht zuletzt weil das Regieteam das Stück beherzt zusammengestrichen hat. Das ist vermutlich der schwierigste Teil der Regiearbeit, sicher aber einer der wichtigsten. Außerdem wird es in der zugigen Klosterruine nachts recht kühl, deshalb gilt gerade hier: In der Kürze liegt die Würze! Trotzdem hatten natürlich alle etwas zu nörgeln. Der Lichtmann unserer Gruppe legte sofort den Finger in die Wunden des Bühnenlichts, der Tontechniker bemerkte Unstimmigkeiten beim Ton, Regisseure bemängelten dies, Schauspieler das. Man sollte einfach nicht mit Theaterleuten ins Theater gehen.
Ein paar Tage nach unserem Besuch bin ich noch einmal auf der Limburg gewesen und zufällig in den Abbau der surrealen Kulissen geplatzt. Eine der Darstellerinnen hat mich angesprochen und sofort mit meinem Namen begrüßt. Vermutlich eine ehemalige Schülerin meiner Schule. Ich kann hier wirklich kaum noch irgendwo auftauchen, ohne dass mich jemand erkennt.

Ich genieße noch einmal den atemberaubenden Ausblick von der Limburg. Mit der Ruhe ist es vorbei in dem Augenblick, da die Hochzeitsgesellschaft eintrifft. Zeit aufzubrechen. Der Umweg über die Limburg hat den Vorteil, dass man von hier aus ohne viel Federlesen direkt auf die B37 kommt. Klingt wenig spektakulär, ist es aber. Die B37 führt von Bad Dürkheim aus direkt in den Pfälzer Wald. Bei strahlendem Sonnenschein spüre ich den Wind auf meiner Haut, sehe liebestollen Zitronenfalterpärchen beim Hochzeitstanz zu und weiche den Tänzern aus, damit sie nicht als gelber Belag auf meinem Helmvisier enden. Und wo Sie gerade sagen „Wind auf meiner Haut?“: Ja! Ich weiß! Ich sollte nicht ohne Schutzkleidung fahren. Damit bin ich kein gutes Vorbild und das sollte ich in meinem Beruf doch unbedingt sein. Und ich bezahle ja  auch regelmäßig dafür, und zwar einen ziemlich happigen Preis. Nämlich immer dann, wenn sich ein stechendes Fluginsekt in mein T-Shirt verirrt. Aber manchmal kann ich nicht anders. Dann muss es einfach sein. Ich arbeite daran und gelobe Besserung. Bis zum nächsten Rückfall.

die Verkehrsinsel in Enkenbach-Alsenborn
Die einspurige Bundesstraße ist einfach zu fahren. Nur an einmal zwingt mich eine scharfe Doppel-S-Kurve zum Bremsen. Um es kurz zu machen: Letzten Endes führt mich mein Weg über Frankenstein (und ja: das heißt wirklich so.) nach Enkenbach-Alsenborn. Hier interessiert mich ein Kreisverkehr, den ich vor vielen Jahren zufällig bei einer Veranstaltung der (wie sollte es anders sein) Neustadter Schauspielgruppe entdeckt habe, bei der ich die Videotechnik mit gestaltet und bedient habe. Er wird dominiert vom Denkmal eines pflügenden Elefanten, dessen Geschichte Sie bitte an anderer Stelle nachlesen. Im Zusammenhang mit meinem Sommerferienthema ist seine Bepflanzung von Interesse. Lavendel übt eine geradezu unwiderstehliche Anziehungskraft auf Insekten aus. Tatsächlich entdecke ich wieder viele verschiedene Arten. Ein besonders bunter Kleinschmetterling weckt mein Interesse. Wie ich später feststelle gehört er zu den Widderchen. Dass ich mich bei einer Familie mit über 1000 Arten auf die Gattung Zygaena festlege, kommt mir im Nachhinein ziemlich vermessen vor. Das können eigentlich nur eingefleischte Spezialisten entscheiden.

ein Widderchen
Der Rückweg ist wie immer von Umwegen geprägt. Anstatt über das Lambrechter Tal direkt nach Neustadt zu fahren, verlasse ich in Frankeneck die Bundesstraße und nehme den Weg über die Kalmit nach St. Martin und Maikammer. Auch hier erinnert mich viel an meine Theatergruppe. In der Nähe der Tankstelle, wo ich den Durst meiner Maschine lösche, haben wir in der Maschinenhalle eines befreundeten Winzers Teile unserer Kulissen eingelagert. Im Gemeindehaus von Maikammer führten „meine“ Schauspieler zusammen mit Teilen der Blue Note Big Band vor einigen Jahren mit „Wir machen Musik - Davon geht die Welt nicht unter“ eine geradezu sensationelle Musikrevue mit Musik aus den 20er und 30er Jahren auf. Das war vermutlich die größte und aufwändigste Produktion der Neustadter Schauspielgruppe überhaupt, auf jeden Fall aber die größte Winterproduktion.

Und so geht es jetzt immer weiter. Es vergeht keine Viertelstunde, bis ich erneut auf Spuren der Theaterwelt stoße, in die ich vor sieben Jahren eingetaucht bin: In Hambach komme ich am „Theater in der Kurve“ vorbei. Eine Art Zimmertheater, mit dem sich ein ehemaliges Mitglied der Neustadter Schauspielgruppe wohl einen Lebenstraum verwirklicht hat. Wie schön, dass es so etwas gibt! Auch eine ehemalige Schülerin von mir, inzwischen ausgebildete Schauspielerin, macht hier regelmäßig Theater mit ihrer freien Theatergruppe „Der Petunientopf“. Großartige Nachwuchsarbeit wird hier geleistet, um junge Menschen an die Schauspielerei heranzuführen und ihnen das dafür notwendige Handwerkszeug zu vermitteln. Auch die Neustadter Schauspielgruppe hat immer wieder davon profitiert, denn schon mehrfach haben wir den talentierten und gut ausgebildeten Nachwuchs aus dieser Schauspielerschmiede in unseren Produktionen einsetzen können. Besonders stolz dürfen wir wohl auf einen jungen Darsteller aus diesem Stall sein, der auf Anhieb die Aufnahme in eine renommierte Schauspielschule in den USA geschafft hat. Danke Petunientopf, danke Theater in der Kurve!

Irgendwo fallen mir noch die Reste eines Plakates des „Dramatischen Hoftheaters“ auf. Auch diese freie Theatergruppe wurde gegründet von theaterbegeisterten Menschen, die in den Produktionen der Neustadter Schauspielgruppe über Jahre eine prägende Rolle gespielt haben. Auch heute noch arbeiten sie mit den hervorragenden Licht- und Tontechnikern der Schauspielgruppe zusammen. Daraus ergibt sich der für beide Gruppen charmante Vorteil, dass es niemals zu Terminüberschneidungen und damit zu einer Konkurrenzsituation kommen kann.

Ich kann es drehen und wenden wie ich will: Wenn ich an einem Tag mit Aftershow-Blues einen Ausflug mache, dann dreht sich in meinem Kopf doch wieder alles nur um Theater. Ganz egal, was das Thema des Ausflugs ist.

P.S.: Der Blog trägt den Untertitel „kleine mürrische Geschichten“, nicht „kleine mürrische Protokolle“. Der Ausflug hat so nie stattgefunden, das Sommerensemble hat auch nicht an der Produktion auf der Limburg herumgenörgelt und überhaupt habe ich eine ganze Menge frei erfunden. Und die tanzenden Zitronenfalter waren in Wirklichkeit Kohlweißlinge. Aber auch die werden zu gelbem Matsch, wenn sie mit einem Motorrad oder seinem Fahrer kollidieren.

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