Ich streife durch die Einträge meiner Blogs und dabei stelle ich ein seltsames Jubiläum fest: Ich habe zwar mit dem „Zettelkasten“ endlich ein Projekt verwirklicht, das mir schon sehr lange vorschwebte. Was es damit auf sich hat, könnt ihr hier nachlesen. Aber in diesem Blog, eigentlich die Mutter meiner Blogs, ist seit ziemlich genau zwei Jahren tote Hose. Und das hat Gründe, und zwar gute: Zuerst war es die unglaubliche Hitze des Sommers 2019, die mich gelähmt hat. Gerade eine Geschichte habe ich noch verfassen können, aber dann war die Energie weg. Im darauf folgenden Winter überschlugen sich dann die Ereignisse in der bekannten Weise: Zoonose in China, Epidemie und schließlich Pandemie. Lockdown, Wechselunterricht, Lockdown, Wechselunterricht und so weiter. Das frustriert, das schränkt die Möglichkeiten für Streifzüge radikal ein und die Lust, darüber zu schreiben auch. Deprimiert und paralysiert sitzt man in der Wohnung und schaut den Balkonpflanzen beim Verwelken zu. Man könnte etwas dagegen tun, aber es ist einem scheißegal. Es ist Corona.
Aber darüber schreibe ich heute nicht. Das ist Thema einer eigenen, einer anderen Geschichte. Heute geht es um die Ereignisse in meiner alten Heimat, die mich zutiefst betroffen machen und erschrecken. Es geht um die Überschwemmungskatastrophen im Westen Deutschlands, also in der Umgebung von Trier (Kyll und Mosel), in Bad Münstereifel und in der Gegend um Erftstadt (wie der Name schon sagt: Erft) und im Ahrtal.
Aber der Reihe nach: Die Erft kenne ich von Kindesbeinen an. Meine Großeltern lebten in einem Stadtteil von Grevenbroich in einem prächtigen Haus mit großem Garten direkt an diesem Fluß. Topographisch gehört die Gegend zur Kölner Bucht, einem keilförmigen Ausläufer des Norddeutschen Tieflandes in das südlicher gelegene Rheinische Schiefergebirge. Da gibt es zum Beispiel das Phantasialand oder das Brühler Schloß als touristische Attraktionen, die ich schon als Kind gerne besucht habe. Ziemlich flach ist es dort. Schwemmland. Der Untergrund besteht aus Sedimenten wie Sand oder Kies, obendrauf eine mächtige Schicht Löss. Der aus diesem Löss entstehende Boden ist so fruchtbar, dass ein Bauer hier den Finger nur in die Erde stecken muss, schon wächst da etwas Grünes. Und Bodenschätze gibt es hier. Am bekanntesten ist sicher die Braunkohle, die hier in riesigen Tagebauten von majestätischen anmutenden Schaufelradbaggern geerntet wird. Mein Großvater hat mir den Tagebau in Garzweiler immer voller Stolz auf die menschliche Ingenieursleistung gezeigt. (Zu dem Zusammenhang zwischen der Braunkohle und dem heutigen Thema kommen wir später.) Aber auch der Kies und der Sand werden abgebaut, und zwar ebenfalls im Tagebau. Die Betonwerke in der Nähe der Millionenstadt Köln gieren nach diesen Rohstoffen. Die Kiesgruben sind in der Regel kleiner als die Braunkohlebergwerke, aber dafür auch zahlreicher. Und oft sehr nah an den Städten und Dörfern.
So auch in Erftstadt-Blessem. Hier rutschte in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 ein Teil einer Straße mit angrenzenden Häusern und einem Pferdehof einfach weg. Das durchnässte Lockermaterial im Untergrund begann zu fließen und schob so Straße und Häuser in eine Kiesgrube. So las ich es in einer Quelle. In einer anderen Darstellung ist davon die Rede, dass die überfließende Erft sich den Weg in den tiefsten Punkt der Landschaft, hier die Kiesgrube, gesucht hat. Beim Abfließen in die Grube erodierte sie dann rückschreitend die Grubenwand. Das Ergebnis bleibt das Gleiche. Tote hat es in dieser Stadt glücklicherweise nicht gegeben.
Meinen Referendardienst habe ich in Trier absolviert. Trier ist als Wohnort wunderschön. Es ist zwar eine Großstadt mit allen kulturellen Vorzügen einer Großstadt. Aber man ist, wenn man das möchte, innerhalb weniger Minuten mitten im Wald. Das kulturelle Angebot ist reichhaltig, der geschichtliche Hintergrund überwältigend. Im nördlichsten Stadtteil Ehrang mündet das kleine Flüsschen Kyll in die Mosel. Hier habe ich als Referendar gelegentlich ein wirklich gutes italienisches Restaurant besucht. Am Mittellauf der Kyll habe ich als Junge gezeltet. Das Flüsschen ist dort normalerweise nicht einmal knietief.
Am Morgen des 15. Juli ergoss sich eine Flutwelle durch Ehrang, die die Bürger so noch nie gesehen haben. Im Ober- und Mittellauf der Kyll hatte diese Welle schon erhebliche Zerstörungen angerichtet, in der nahen Ortsgemeinde Kordel hatte sie einen Rekordpegel von 7,85 Metern. Jetzt bahnte sie sich den Weg durch den Trierer Stadtteil.
Als Kind und Jugendlicher habe ich im Remagener Stadtteil Kripp gelebt. Mein Elternhaus stand direkt am Rhein, und die regelmäßigen Rheinhochwasser trafen uns mit voller Wucht, manchmal auch zweimal im Jahr. Aber wir hatten immer Vorlauf. Wir wussten immer mehrere Tage im Voraus, wann die Flut kommt und hatten einigermaßen sichere Prognosen über die Höhe des Flutereignisses. Wir konnten in Kripp die Autos in Sicherheit bringen, Möbel und andere Habseligkeiten in höhere Stockwerke retten oder, bei kleineren Hochwasserereignissen, Türen mit Sandsäcken oder Holzbohlen abdichten. Im Laufe der Jahre lernten wir, wie man Heizöltanks gegen die Flut sichern kann oder wie man Häuser nach und nach hochwassersicher umbaut. Der Dreck und der Schlamm waren trotzdem jedesmal unbeschreiblich.
In Ehrang gab es keine Vorwarnzeit. Für die Verantwortlichen sah es lange Zeit so aus, als könne die Kyll die Deiche nicht überwinden. Erst im Laufe des Vormittags wurde klar, dass die für eine Prognose des Verlaufs der Flutwelle notwendigen Pegelmeldungen aus der Eifel aufgrund von Stromausfällen und weggeschwemmter Messeinrichtungen mit der Realität nichts, aber auch gar nichts zu tun hatten. Die Menschen wurden überrascht und konnten nur in größter Eile evakuiert werden. Es grenzt an ein Wunder, das in Ehrang nicht noch viel mehr Schaden angerichtet wurde.
Hatte ich schon erwähnt, dass der Remagener Stadtteil Kripp, in dem ich meine Kindheit verbracht habe, direkt an der Mündung der Ahr in den Rhein liegt? Meine Eltern hatten dort ein Hotel mit Rheinblick. Nichts tolles. Eher eine Anlaufpunkt für Niederländische und Britische Bustouristen älteren Semesters. Diese Klientel ist übrigens der Grund, warum ich bis heute keinen Dialekt spreche: Wenn die Gäste aus fremden Ländern sich schon die Mühe machen, eine Handvoll deutsche Vokabeln zu lernen, dann soll ihnen die Kommunikation nicht noch durch Kinder erschwert werden, die rheinische Mundart benutzen. Als sprach man in der Casa Kluth Hochdeutsch. Und zwar immer. Gerade die Niederländischen Gäste, die ja zum Teil noch im zweiten Weltkrieg unter der deutschen Besatzung gelitten haben, waren immer ganz besonders freundlich, höflich und interessiert. Die Ironie bzw. den Sarkasmus beim Bestaunen meines Vornamens („DAS ist aber ein schöner Name!“) habe ich als Fünfjähriger nicht verstanden. Für mich waren die „Holländer“ als Kind einfach nur rundrum nette und tiefenentspannte Leute, die eine irgendwie lustige Sprache sprechen. Deshalb habe ich in den ersten Semestern meines Studiums auch die Gelegenheit ergriffen, mich im Rahmen des Studium Universale näher mit dieser Sprache zu beschäftigen.
Gerne haben ich als Kind die holländischen Gäste bei ihren Tagesausflügen begleitet. Ich durfte ganz vorne im Bus sitzen, auf dem Platz des Reiseleiters. Wir fuhren den Rhein rauf und runter, um Orte mit wohlklingenden Namen wie Bacharach oder Rüdesheim zu erkunden. Auch die Orte an der Ahr waren beliebte Ausflugsziele: Dernau oder Altenburg. Der Weinkeller der Winzergenossenschaft in Mayschoß hat sich mir bis heute im Gedächtnis eingebrannt. Nicht zuletzt deshalb, weil ich Jahrzehnte später eine besonders netten Kollegin auf einer Exkursion ihres Leistungskurses dorthin begleiten durfte. Aber das ist eine andere Geschichte. Auch das Restaurant „Lochmühle“ ist mir ein Begriff. Es wurde von meinem Vater bewundert, weil dort regelmäßig Bonner Politpromis zum Abendessen aufschlugen. An die „Bunte Kuh“ kann ich mich gut erinnern: Ein vorspringender Felsen, wo dereinst ein Raubritter ein Glöckchen vernahm und fromme Gefühle ihn deshalb zum Niederknien nötigten. Dass das Glöckchen nur an einem Stück Milchvieh hing, erzürnte ihn sehr. Die Kuh überlebte das nicht.
Ich schweife ab. Wir sind im Ahrtal, und damit bei dem Teil des Themas, der zu erzählen mir am schwersten fällt:
An dieser Stelle möchte ich zunächst kurz auf den Ursachenkomplex für die Ereignisse eingehen. So kann man besser verstehen, was an der Ahr so anders war als bei vergangenen Rekordhochwasserereignissen. Da kommt tatsächlich Einiges zusammen: Der Klimawandel spielt eine Rolle, wenn auch nicht die einzige: Tief Bernd hatte sich über Mitteleuropa festgesetzt. Der Jetstream hatte sich soweit abgeschwächt, dass Tiefs und Hochs einfach viel länger ortsfest blieben als in der Zeit meiner Kindheit. Das hatte uns in den vergangenen Jahren immer wieder mal ungewöhnlich lange Trockenperioden beschert, oder eben auch ungewöhnlich feuchte Phasen. Und wenn die Atmosphäre im Schnitt 1°C wärmer ist, kann sie etwa 7% mehr Feuchtigkeit aufnehmen. Die muss sich irgendwann und irgendwo auch wieder abregnen. Und das ist in diesem Jahr über der Eifel geschehen. An manchen Orten waren das 150mm Niederschlag in 24 Stunden. Bitte machen Sie sich klar: Das sind 15 große Putzeimer voll Wasser pro Quadratmeter. Oder eine nicht ganz volle Badewanne. Pro Quadratmeter.
Die Böden waren nach einer langen Regenperiode schon weitgehend mit Wasser vollgesogen und konnten die Wassermengen die der Starkregen brachte nicht mehr aufnehmen. In den Einzugsgebieten der Flüsse waren in den vergangenen Jahrzehnten viele Flächen versiegelt worden. Auch hier versickerte nichts mehr. Bäche und Flüsse im Einzugsgebiet der Ahr waren befestigt und begradigt worden. Die Fließgeschwindigkeit dieser Gewässer hat sich so stark erhöht. In den Weinbergen war in den vergangenen Jahrzehnten eine Flurbereinigung durchgeführt worden. Dabei wurde auch dergestalt umgebaut, dass man hier jetzt auch Maschinen an Seilwinden den Berg hinaufziehen kann. Wo noch in meiner Kindheit die Steillagen stark terrassiert waren und wo die Terrassen abfließendes Wasser bremsten, rauschte es nun ungebremst zu Tal. Seit Jahrhunderten forstete man die Eifel mit standortfremden Nadelgehölzen auf. Die Böden in Nadelwäldern nehmen viel weniger Wasser auf, als die in Laubwäldern.
In der Land- und Forstwirtschaft benutzte man seit Jahrzehnten immer schwerere Maschinen, die die Böden verdichteten. Auch wenn man glaubte, das mit immer breiteren ballonartigen Reifen verhindern zu können. Klingt ja auch logisch: Das Gewicht der Maschinen wird auf eine größere Fläche verteilt. Aber leider entstehen bei diesen Maschinen Druckwellen im Boden, die denselben dann weiter im Untergrund doch verdichten. Doch dieser Punkt ist umstritten: Während die Einen die Druckwellen im Unterboden beklagen, weisen die Anderen darauf hin, dass man bei den Ballonreifen moderner Schlepper während der Fahrt die Luft entweichen lassen kann, um die Auflagefläche zu vergrößern und so den Druck zu verringern. Solche Systeme habe ich vor Jahrzehnten auf Isländischen Gletschern bewundern dürfen, hier hat man mit diesem Trick v. A. den Gripp der Pneus auf rutschigem Untergrund erhöht. Dass sie heute auch in der Landwirtschaft üblich sind, wusste ich bisher nicht. Da ich in diesem Punkt kein Spezialist bin, und mir hier auch keine entsprechende Fachliteratur zugänglich ist, unterlasse ich eine Bewertung.
Der schlimmste Fehler aber war das Ausweisen von Baugebieten an Stellen, die viel zu nah an den Flüssen liegen. Die Topographie des Ahrtals tut ein Übriges: Das Ahrtal ist ungewöhnlich steilwandig und eng. Eine Flutwelle kann hier weder nach links noch nach rechts ausweichen, sondern nur in eine Richtung: nach oben. Und so schaukelte sich der Pegel in Altenahr auf über sieben Meter auf, an besonders engen Stellen im Tal muß man noch von weit höheren Pegelständen ausgehen. Auch hier wurden die Messgeräte fortgerissen, sodass kein genaues Zahlenmaterial vorliegt.
Bäume wurden geknickt wie Streichhölzer. Vor Brücken staute sich Treibgut. Dadurch entstanden dann regelrechte Staudämme. Wenn diese nachgaben und brachen ergoss sich eine Art Tsunami auf die darunterlegenden Dörfer. Die nächste Brücke wurde durch das Treibgut ebenfalls blockiert und das Spiel begann von neuem. Autos, Wohnwagen und Lieferwagen wurden weggeschwemmt und an den Brücken wie von einer Riesenfaust zerquetscht.
Ein Heizöltank an einem älteren Einfamilienhaus fasst um die 2500 bis 3000 Liter. Man füllt diese Tanks üblicherweise im Sommer, weil die Heizölpreise dann niedriger sind als im Winter. Wollte man einen solchen vollen Tank bewegen, bräuchte man vermutlich einen Autokran von beachtlicher Leistungsfähigkeit. Oder eine große Menge Wasser. Öl ist nämlich spezifisch leichter als Wasser, weshalb ein voller Öltank, so schwer er auch sein mag, einen Schwimmkörper mit erstaunlichem Auftrieb darstellt. Er schwimmt auf, löst sich dabei aus seiner Verankerung und dabei reißen die Leitungen ab. Sein Inhalt ergießt sich nach und nach in die Umgebung und vermischt sich dabei mit den Treibstoffen der weggeschwemmten Kraftfahrzeuge.
Menschen wurden im Schlaf überrascht, als das Wasser bereits so hoch stand, dass sie sich nur noch auf die Dachböden oder auf die Dächer retten konnten. Viele konnten mit Hubschraubern gerettet werden, aber nicht alle. Mehr als 130 Menschen kamen allein im Landkreis Ahrweiler ums Leben, noch immer gibt es Vermisste. Viele Häuser wurden zerstört, ebenso Straßen, Brücken und Eisenbahnstrecken. Die Häuser, die nicht weggerissen sondern nur überflutet wurden, müssen vollständig entkernt werden. Das bedeutet, dass man sie in den Zustand eines Rohbaus zurückversetzt, vollständig trocknet und dann wieder ausbaut. Viele Häuser sind jedoch so stark unterspült und destabilisiert worden, dass nur noch der Abriss bleibt. Existenzen wurden vernichtet: Winzer verloren mehrere eingelagerte Jahrgänge, sämtliche Maschinen sowie die Rebstöcke in den tieferen Lagen. Gaststätten wie zum Beispiel die oben angesprochene Lochmühle wurden vollständig zerstört. Handwerker verloren Werkstätten und Werkzeug. Heizöl, Kraftstoffe, Chemikalien, Leichen und Tierkadaver verseuchen das Grundwasser und die Seuchengefahr ist bis heute nicht gebannt. In den Straßen türmen sich mehrere Meter hoch Autowracks, abgeknickte Bäume und Schutt- und Sperrmüllberge. Ratten vermehren sich rasend schnell. Nach dem zweiten Weltkrieg hat das Ahrtal längst nicht so schlimm ausgesehen wie heute.
In den folgenden Wochen machten sich freiwillige Helfer, Landwirte, Bau- und Lohnunternehmer aus ganz Deutschland auf den Weg, um ihre Hilfe anzubieten. Eine unfassbare Welle der Hilfsbereitschaft generierte Spenden und Menschen, die mit anpacken wollen. Und wer keinen Radlader fahren kann, nimmt eben Besen und Eimer und hilft beim Aufräumen.
Aber wir wollen realistisch bleiben: Das Tal wieder aufzubauen wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern. Und es wird Unsummen verschlingen.
Die Frage ist nicht, ob der Klimawandel kommt (er ist längst da!), die Frage ist vielmehr, wann wir Menschen es verstehen und endlich etwas dagegen tun.
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